N I T R O F E N - S K A N D A LNeue Spur im Nitrofen-Skandal
Aus: Spiegel-Pressemeldung 1. Juni 2002, ??.?? Uhr zum Artikel "Gift im Garten Eden" im SPIEGEL 23/2002, 3. Juni 2002, Seite 7884 (Deutschland).HAMBURG. Bei der Suche nach der Ursache für die Verseuchung von Öko- Lebensmitteln mit Nitrofen gibt es eine neue Spur. Demnach hat ein bisher unveröffentlichtes Gutachten eines Hannoveraner Labors ergeben, dass eine Probe aus der Mühle des niedersächsischen Futterherstellers GS agri neben Nitrofen noch die Rückstände von 3 weiteren verbotenen Pflanzenschutzmitteln [Ed: darunter die Gifte DDT und Lindan] enthielt. Bei den im April untersuchten Körnern, die als Öko- Weizen deklariert waren, handelte es sich nach Erkenntnissen des Chemischen Labors Dr.Wirts und Partner deshalb gar nicht um Getreide aus ökologischem Anbau. Das Ergebnis, heißt es in dem Untersuchungsbericht, spreche vielmehr für eine Vermischung des Ökofuttergetreides mit belastetem Getreide aus konventionellem Anbau.
Bei der Untersuchung, welche die Versicherung [Ed: die zum Raiffeisen-Verbund gehörende R & V Versicherung in Wiesbaden] der GS agri in Auftrag gegeben hatte, ermittelte das Labor den höchsten Nitrofen- Wert, der bisher in Öko- Getreide der Futtermühle gemessen wurde. Er lag bei 15,9 Milligramm je Kilogramm Weizen. Die Wissenschaftler des Instituts halten es für denkbar, dass ein Umweltsünder die Restbestände mehrerer verbotener Herbizide entsorgt und möglicherweise über eine Charge Korn ausgekippt hat. Nur so sei auch der hohe Nitrofen- Wert zu erklären. Nach Ansicht der Prüfer handelte es sich dabei vermutlich nicht um normales Korn, sondern um eine Charge Saatgut.
Auch in der Frage, wo das Nitrofen ins Öko- Futter gelangt ist, gibt es neue Hinweise. Die Auswertung von 26 neuen Futterproben der GS agri hat in 11 weiteren Fällen Nitrofen- Belastungen ergeben. Allerdings waren die Rohstoffe des Futters vor ihrer Verarbeitung noch frei von dem krebserregenden Gift gewesen. Dies könnte auf eine Kontamination in der Mühle hindeuten. [Vollständiger Artikel] [mehr]
V E R B R A U C H E RVerseuchtes Getreide stammt aus Mecklenburg-Vorpommern
Der Nitrofen-Skandal ist aufgeklärt: Das von dem niedersächsischen Futtermittelhersteller "GS agri" bundesweit verkaufte Öko-Getreide wurde in einem Lager einer Saatgutfirma in Mecklenburg-Vorpommern mit dem verbotenen Pflanzenschutzmittel kontaminiert. In der Halle bei Neubrandenburg hatten zu DDR-Zeiten Pestizide gelagert.
Aus: Spiegel-Online, Hamburg, 1. Juni 2002, 18.16 Uhr (nur elektronisch publiziert). [Original]BERLIN/SCHWERIN. "Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass es noch eine andere Quelle der Verunreinigung gibt", sagte Bundesverbraucherschutzministerin Renate Künast (Grüne).
Nach Angaben von Mecklenburg-Vorpommerns Agrarminister Till Backhaus (SPD) handelt es sich bei der betroffenen Firma um die Norddeutsche Saat- und Pflanzgut AG in Neubrandenburg (NSP). Das Unternehmen wurde laut Landesministerium sofort gesperrt. Davon betroffen seien auch Niederlassungen in anderen Bundesländern. Staatsanwaltschaft und Landeskriminalamt hätten die Ermittlungen aufgenommen.
Lagerstätte der Staatsreserve
Den bisherigen Erkenntnissen zufolge hatte die NSP die [Ed: 2000 Quadratmeter große] Halle in Malchin bei Neubrandenburg im Oktober 2001 gemietet und dort das Bio- Getreide aufbewahrt. Zu DDR- Zeiten diente die Halle als "Lagerstätte der Staatsreserve an Pflanzenschutzmitteln der 3 Nordbezirke". Nach der Wiedervereinigung wurde das Lager 1990 durch die Treuhand privatisiert und vom Bund ohne Auflagen veräußert.Niedersachsens Agrarminister Uwe Bartels (SPD) sagte, die Ermittlungen konzentrierten sich nun auf die Verantwortlichen des Skandals. Sie seien einmal beim Betreiber der Halle in Malchin zu suchen, dann bei den Verarbeitern des Getreides sowie bei den Käufern der Futtermittel. Sie hätten das Getreide zwar gutgläubig erworben, später aber teilweise den Nachweis von Nitrofen verschwiegen.
Raiffeisenverbund als Hauptverantwortlicher
Künast stellte klar, dass es sich nicht um einen Öko-Skandal gehandelt habe. Vielmehr sei der genossenschaftliche Raiffeisen- Verbund hauptverantwortlich dafür, dass die Öffentlichkeit nicht frühzeitig informiert wurde. "Das muss jetzt ein Ende haben." In Richtung Unionskanzlerkandidat Edmund Stoiber (CSU) und der Unions- geführten Länder, die erst gestern das Verbraucherinformationsgesetz im Bundesrat blockierten, sagte sie: "Stoiber soll darüber noch einmal nachdenken." Im Vermittlungsausschuss sei dafür jetzt genug Zeit.Zuvor hatten Wissenschaftler neben Nitrofen noch weitere verbotene Pflanzenschutzmittel in dem Bio- Futter Futtermittelherstellers "GS agri" nachgewiesen. Der Anwalt von "GS agri", Carsten Bittner, bestätigte heute einen SPIEGEL-Bericht. Er betonte aber, bei diesen Stoffen seien die gesetzlichen Grenzwerte nicht überschritten worden. Das Bundesministerium für Verbraucherschutz in Berlin erklärte, dass die Untersuchungsergebnisse derzeit überprüft würden. Ein Ergebnis sei Anfang der Woche zu erwarten.
Verseuchte Eier und Fleisch
"GS agri" steht im Verdacht, mit Nitrofen verseuchtes Futtermittel für Geflügel an Öko-Betriebe ausgeliefert zu haben. Inzwischen wurden in 4 Bundesländern verseuchte Eier oder Hühnerfleisch gefunden.Von Samstagmittag an soll das Lieferverbot von der Polizei kontrolliert werden. Das Landesamt für Verbraucherschutz lasse Beamte vor der Produktionsstätte für Öko- Futter bei Cloppenburg postieren, um sicher zu gehen, dass das am Donnerstagabend [30.5.2002] verhängte Verbot auch eingehalten werde, sagte eine Behördensprecherin in Oldenburg.
Bereits im November [Ed: unglaublich!!!] hatte die Versicherung von GS agri ein privates Labor in Hannover mit der Untersuchung der Probe des Öko- Futter beauftragt. Ende März, Anfang April lagen die Ergebnisse laut Bittner vor. In der Probe war auch eine Belastung von 15,9 Milligramm Nitrofen je Kilogramm Weizen gefunden worden, der Grenzwert liegt europaweit bei 0,01 Milligramm [Ed: also eine Grenzwert- Überschreitung von um das 1590-fache!].
Vermischung des Ökofuttergetreides
Das Verbraucherschutzministerium hat nach eigenen Angaben vom dem Gutachten Ende der Woche erfahren. Die Ergebnisse der Untersuchung könne das Ministerium noch nicht bestätigen, sagte ein Sprecher heute: "Wir haben Paralleluntersuchungen laufen."Bis Anfang der Woche soll auch die Vermutung des Versicherungs- Gutachters überprüft sein, dass Öko- Weizen mit konventionell angebautem Weizen gemischt worden ist. Im Untersuchungsbericht des Labors heißt es das Ergebnis spreche "für eine Vermischung des Ökofuttergetreides mit belastetem Getreide aus konventionellem Anbau."
Stoiber attackiert Künast
In Vechta nahe dem Sitz der "GS-agri" attackierte Unions-Kanzlerkandidat Edmund Stoiber (CSU) derweil die Agrarpolitik der rot-grünen Bundesregierung. Bei einer CDU-Veranstaltung sagte Stoiber heute vor mehreren tausend Bauern, die angestrebte Agrarwende verwässere den Ökolandbau und schade der konventionellen Landwirtschaft. Stoiber sprach sich für die Fortführung der staatlich subventionierten Agrarwirtschaft aus. Eine rein markwirtschaftliche Ausrichtung würde zur Verödung der Kulturlandschaft führen.Verbraucherschutzministerin Renate Künast (Grüne) warf er im Nitrofen- Skandal Versagen vor. Sie habe "auf ganzer Linie versagt", sagte Stoiber der Welt am Sonntag. "Wenn jetzt die Öko- Betriebe in Misskredit geraten, trägt sie alleine die politische Verantwortung", betonte der bayerische Ministerpräsident.
Warnung vor Generalverdacht
Der rheinland- pfälzische Landwirtschaftsminister Hans-Artur Bauckhage (FDP) warnte davor, die ökologische Landwirtschaft unter Generalverdacht zu stellen. Statt polemischer Schuldzuweisungen erwarteten die Verbraucher konsequente Qualitätskontrollen und mehr Transparenz, sagte der Minister heute zur Eröffnung der Öko- Aktionstage 2002 in Mendig (Landkreis Mayen- Koblenz). Es müsse wieder "mehr Pragmatismus und weniger Ideologie" in der Agrarpolitik herrschen.Gleichzeitig forderte Bauckhage eine restlose Aufklärung der Vorfälle und ein konsequentes Vorgehen gegen "schwarze Schafe" in der Öko- Branche. Nur damit lasse sich das Vertrauen der Verbraucher in die ökologische Landwirtschaft wiederherstellen. Bislang gebe es keinen Hinweis, dass Betriebe in Rheinland- Pfalz mit belastetem Futtergetreide beliefert wurden. "Wir müssen aufpassen, dass Vieh haltende Betriebe nicht erneut durch eine allgemeine Verunsicherung in eine Absatzkrise geraten", sagte der Minister. [mehr]
Gift im Garten Eden
Der Nitrofen-Fund von Niedersachsen schockt Konsumenten, Biobauern und Politik gleichermaßen. Monatelang versickerten Warnhinweise bei Behörden, Hersteller versuchten, den Pestizid-Skandal zu vertuschen das Vertrauen in die Öko-Szene ist damit fürs Erste dahin.
Aus: Der Spiegel 23/2002, 3. Juni 2002, Seite 7884 (Deutschland) von PHILIP BETHGE, ANNETTE BRUHNS, ANNETT CONRAD, JÜRGEN DAHLKAMP, MICHAEL FRÖHLINGSDORF, UDO LUDWIG, CORDULA MEYER, GERD ROSENKRANZ und HOLGER STARK. [Original]Der Brief datierte vom 10. April, und er gab dem brandenburgischen Landwirtschaftsministerium eine faire Sechs-Wochen-Chance, schneller zu sein als der Rest der deutschen Agrarbürokratie.
In 16 leicht verständlichen Zeilen alarmierte da der Chef einer Berliner Kontrollstelle für Öko- Höfe den zuständigen Referatsleiter, dass es Hinweise auf Pflanzenschutzmittel in Bioputen gebe. Selbst sei man zwar nicht fündig geworden, aber "ich möchte Sie dennoch hierüber informieren, da sich der Sachverhalt zu einem Skandal entwickeln könnte".
Der Mann hatte offenbar seherische Fähigkeiten; dem Referatsleiter und seinem Vorgesetzten, Minister Wolfgang Birthler (SPD), hätte man dagegen wenigstens etwas mehr Einsicht gewünscht. Erst am 24. Mai habe das Ministerium einen Hinweis auf die Nitrofen- Affäre erhalten, behauptete Birthler noch am vergangenen Dienstag. Da fehlte jede Erinnerung an die Warnung von Anfang April.
Dass die berechtigt war, steht spätestens seit voriger Woche außer Zweifel. Ausgerechnet in der grünen Nische der Agrarindustrie ging die Bombe hoch, bei den Besser-Bauern der Öko-Landwirtschaft. Und die Schockwelle hätte nicht heftiger sein können.
Schwer getroffen: die forsche Verbraucherschutzministerin Renate Künast (Bündnis 90/ Die Grünen), die vorerst die Aura der grünen Wunderfrau eingebüßt hat. Nicht nur in Brandenburg, überall in deutschen Amtsstuben versickerten monatelang Warnhinweise auf Nitrofen- Funde, als wären immer noch Künasts lasche Vorgänger Karl-Heinz Funke (SPD) und Jochen Borchert (CDU) im Dienst.
Genauso getroffen: ihr Jahrhundertwerk, die Öko-Wende, die von der Opposition, von Bauernlobbyisten und Apparatschiks in den Agrarbehörden ohnehin blockiert wird. Der Skandal untermauert die Vermutung, dass sich auf deutschen Höfen im Jahr zwei nach der Zeitenwende von BSE nicht viel geändert hat. Am stärksten aber beschädigt: die ganze Biolandwirtschaft. So wie vor eineinhalb Jahren die bizarr zum Himmel gestreckten Beine verbrannter BSE-Rinder zum Symbol einer maßlosen Massentierhaltung wurden, werden nun wohl Abertausende notgeschlachtete Nitrofen-Hühner zum Sinnbild einer offenbar maßlos überschätzten Alternative.
Denn nicht nur der Öko-Landbau hat seine "Unschuld verloren", wie der niedersächsische Landwirtschaftsminister Uwe Bartels (SPD) vermutete, sondern auch der Konsument seine Naivität: Die Methode Bio, so hatte er geglaubt, sei im Gegensatz zum herkömmliche Landbau sicher. Nun, da Firmen wie Edeka und Tengelmann ihre Bioeier aus dem Regal ziehen und die Ministerin von "krimineller Energie" spricht, erfährt der entsetzte Verbraucher: Bio ist allenfalls ein bisschen sicherer.
Auch im Garten Eden des deutschen Nährstandes wird lückenhaft kontrolliert, werden Mängel der Öffentlichkeit verschwiegen. Auch hier werden Futtermittel über Händler, Zwischenhändler, Transporteure und Verarbeiter durch die ganze Republik gekarrt. Auch hier mutieren Betriebe zu Biofabriken, damit der Öko-Landbau mehr Profit bringt und die nach Gesundkost lechzenden Verbrauchermassen bedient werden können. Und deshalb ist dieser Skandal keine Ausnahmeerscheinung, sondern ein Lehrbeispiel.
Nichts macht dies deutlicher als die Tatsache, dass auch beim angeblich so gläsernen Öko- Landbau bis Ende vergangener Woche kein Beamter, kein Politiker, kein Staatsanwalt mit Gewissheit erklären konnte, an welcher Stelle das Gift tatsächlich in jene 550 Tonnen Getreide gelangt ist, die von der Futtermühle GS agri im niedersächsischen Schneiderkrug verarbeitet und an über hundert Öko-Höfe verteilt worden sind.
Am vergangenen Donnerstag versuchte Künast mit ihren Länderkollegen noch einmal vergebens, die Fakten des Krimis zusammenzupuzzeln, doch die Auflösung kannte sie hinterher noch immer nicht. Das erste Kapitel führte nach Brandenburg, in das 400-Seelen-Kaff Stegelitz. Dort wo der Geschäftsführer der örtlichen Agrarerzeuger- und Vertriebsgenossenschaft (AVG), Klaus Drewelow, seine Hände tief in den Hosentaschen vergräbt und "Ick hab nüschts jemacht" nuschelt.
Gut 300 Tonnen Weizen hat Drewelow im vergangenen September mit seinen 15 Mitarbeitern auf 1000 Hektar Fläche geerntet. Die ehemalige LPG, seit drei Jahren im Öko- Geschäft, steht für den rapiden Wandel der Biobranche, die Ende 1999 noch mit 10.425 Betrieben auf 450.000 Hektar wirtschaftete, zwölf Monate später aber schon mit 12.740 Betrieben auf 546.000 Hektar. Der Boom hat seinen ideologischen Preis: Auch Drewelow gehört zur neuen Generation der Biobauern, die sich nicht mit Körnerphilosophie belasten, sondern vor allem gutes Geld verdienen wollen. Das verlangt Fläche, das verlangt Menge, und das setzt statt kleiner, privater Abnehmer große Aufkäufer voraus. Firmen wie die Norddeutsche Saat- und Pflanzgut AG (NSP) aus Neubrandenburg.
Am 12. und 13. Oktober vergangenen Jahres holt die NSP bei Drewelow 325,34 Tonnen Öko- Weizen mit Schüttgutlastern ab, bringt sie nach Prenzlau zum Trocknen und ein paar Tage später ins eigene Öko- Getreidelager nach Malchin.
Der nächste Käufer ist ein Broker, die Firma Josef W. Busse aus Erwitte in Westfalen auch das ein Phänomen des neuen öko- agrarindustriellen Komplexes. Denn solange Bioerzeugnisse in der Region blieben, brauchte man keine Makler, die sie, ohne die Ware je gesehen zu haben, kreuz und quer per Telefon oder Computer durch die Republik vermarkten.
Heute aber geht es kaum noch ohne die Mittelsmänner: "Wer die gewachsene Nachfrage saisonunabhängig befriedigen will, muss in der ganzen Welt zusammenkratzen, was irgendwie Bio-zertifiziert ist", klagt Sepp Bichler, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft bäuerlicher Landwirtschaft aus Sielenbach bei Augsburg.
Dass dann gerade bei Öko- Geschäften im großen Stil und über zahlreiche Stationen auch die größten Ferkeleien passieren, zeigt der spektakulärste Betrugsfall der Branche, der zurzeit im rheinland- pfälzischen Bad Kreuznach verhandelt wird. Dort steht ein 52-jähriger Agraringenieur vor dem Landgericht, weil er binnen 14 Monaten fast 29.000 Tonnen Getreide und Futtermittel aus herkömmlichem Anbau als Öko-Futter verkauft haben soll.
Die Ware kam vor allem aus Polen, geordert von zwei Firmen mit Sitz in Luxemburg, verkauft durch ein Unternehmen in Berlin, geliefert innerhalb Deutschlands, nach Österreich, Belgien, Dänemark, Großbritannien und in die Niederlande. Der Schaden geht in die Millionen.
Auch Broker Busse schickt das Öko-Getreide aus der Uckermark im vergangenen Jahr auf eine lange Reise: Ende Oktober und Anfang November verkauft er die Weizen-Partien aus Stegelitz an eines der großen Futtermittel- Mischwerke der Republik, die GS agri im niedersächsischen Landkreis Cloppenburg. Aus deren Mühlen rieselt zu 90 % herkömmliches Tierfutter, seit der Künast-Wende wird mit dem Rest auf Bio gemacht.
Die GS agri ist Teil eines norddeutschen Bioimperiums, über das Künasts Staatssekretär Matthias Berninger klagt, die "alte Struktur der konventionellen Landwirtschaft" sei hier "komplett auf den Öko- Bereich übertragen worden". Im Zentrum sitzen die Cloppenburger Geflügelbarone Christoph- Bernhard Kalvelage, Besitzer der konventionellen Putenfabrik Heidemark, und Heinrich Tiemann, Chef von Wiesengold, Marktführer für Bioeier in Deutschland. Vor drei Jahren stiegen die beiden mit GS-agri-Chef Paul Römann in die "Grüne Wiesen Biohöfe" ein, ein Unternehmen, das binnen Kürze den Markt für Bioputen aufrollte mit einem Zulieferersystem wie in der Autoindustrie: Tiemann verkauft seine Öko- Putenküken an Dutzende Kleinmäster der Umgebung, diese beziehen das Biofutter bei GS agri, Heidemark schlachtet das fette Federvieh, und Grüne Wiesen verkauft es.
Bei den Zulieferern von Wiesengold und Grüne Wiesen landet auch das Kraftfutter, das die Futtermühle aus dem Stegelitzer Öko-Getreide hergestellt hat. So hat der Weizen von Bauer Drewelow seit der Ernte viermal den Besitzer und viermal den Lagerort gewechselt, als am 15. November der Pfaffenhofener Babynahrungshersteller Hipp Putenfleisch von Grüne Wiesen zurückweist.
Hipp, bekannt für scharfe Kontrollen, hat einen merkwürdigen Ausschlag im Gaschromatogramm festgestellt. Drei Wochen später weiß der Babykostproduzent, dass es sich um Nitrofen handelt, und Drewelows Betrieb in Stegelitz gerät unter Verdacht, das Krebsgift aufs Feld gesprüht zu haben.
Der Fund eines Stoffes, der schon seit 1990 verboten ist, spricht erst einmal für die Öko-Landwirtschaft, so paradox das klingen mag. Wäre nämlich die Pute als Federvieh aus traditioneller Aufzucht deklariert in den Handel gekommen, das Giftfleisch wäre sicher im Bauch eines Verbrauchers gelandet. Denn die gängigen Lebensmittelkontrollen sind dürftig; schon gar nicht wurde hier bisher nach Nitrofen gefahndet.
Damit aber endet auch schon die Erfolgsstory der Ökos. Was nun folgt, sechs Monate lang, von November bis Mai, ist eine Krisenbewältigung mit dem stinkenden Stallgeruch der alten, herkömmlichen Landwirtschaft. Nach dem Nitrofen- Treffer im Hipp- Labor schaltet auch der Putenfabrikant Grüne Wiesen Wissenschaftler ein: Am 28. Januar liefert er Proben an die Bundesforschungsanstalt für Fleischforschung (BAFF) in Kulmbach, etwa zur gleichen Zeit an das Hamburger Labor Specht.
Doch die Sache kommt nicht recht in Gang. Weil die Technik für die Nitrofen- Analyse zunächst fehlt, sind die Fleisch- und Futterproben bei Specht erst am 12. März, in Kulmbach am 27. März ausgewertet. In der Zwischenzeit, unkt Hanns- Dieter Rosinke, Sprecher des niedersächsischen Landwirtschaftsministers Bartels, könnten Tausende Pestizidputen "verputzt worden sein". Selbst als die Ergebnisse aber bekannt werden, passiert zunächst nicht viel. Die Kulmbacher Fleischforscher machen ihrem Dienstherrn in Berlin keine Meldung, Begründung: Es habe sich um eine private Probe gehandelt. Als der Auftraggeber versichert habe, dass das Fleisch nicht in den Handel komme, habe man sich damit zufrieden gegeben, rechtfertigt sich BAFF-Chef Karl-Otto Honikel.
Auch die GS agri schweigt, obwohl nun weitere Tests ihres Futters den exorbitanten Wert von 5,96 Milligramm pro Kilogramm ergeben eine Form der Informationsverarbeitung, die viele Experten in den Ministerien für rechtswidrig halten. Paragraf 17 des Futtermittelgesetzes legt nämlich fest, dass bei einer schwer wiegenden Gefahr für die menschliche und tierische Gesundheit "unverzüglich" die Behörden einzuschalten sind. Ulrike Höfken (Bündnis 90/Die Grünen), stellvertretende Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Landwirtschaft, hält Honikels Verschwiegenheit deshalb "für saudoof".
So ruhen zwischen März und Mai die brisanten Datenblätter mit den Nitrofen-Werten unter irgendwelchen Aktendeckeln. Auch das Institut für Marktökologie (IMO) in Konstanz, das die Öko- Standards der GS agri kontrollieren soll, hält still. Zwar sei er offiziell "Mitte März" informiert worden, sagt IMO-Kontrollstellenleiter Thomas Schneider heute, doch da seien die Nitrofen- Werte wieder bei null gewesen. Unternommen habe er nichts, gesteht Schneider.
Wenn niemand etwas sagt, muss das System versagen, mit dem alle Öko-Betriebe in Deutschland überwacht werden. Jeder Hof muss demnach eine der 22 bundesweit anerkannten Kontrollstellen beauftragen, ihn einmal im Jahr zu überprüfen ohne Testat darf kein Bauer Lebensmittel oder Futter mit dem Siegel "Öko" verkaufen.
Allerdings ist die Kontrolle meist eine Farce: Die Prüfer schlagen fast immer nur in den Büchern nach und schauen sich Felder und Hallen an; Proben für chemische Analysen nehmen sie nur selten mit. Als eine EU-Delegation 1999 mal nachzählte, stellte sie fest, dass die Öko- Prüfer in ganz Deutschland im Jahr zuvor genau 34 Teströhrchen gefüllt hatten. Selbst in Verdachtsfällen scheuten Aufpasser den Gang ins Labor und beließen es beim Studium der Unterlagen. Andererseits: Die EU selbst schreibt erst seit Dezember 2001 zwingend vor, dass bei einem Verdacht auch eine Probe gezogen werden muss.
Die Giftsuche bei Grüne Wiesen und seinem Futtermittellieferanten GS agri im Frühjahr verläuft in diesen Wochen intern und zunächst ergebnislos: Alle Beteiligten beteuern, mit Nitrofen nie etwas zu tun gehabt zu haben. Hipp, Grüne Wiesen und GS agri installieren zudem ein Kontrollsystem, mit dem bereits jede Rohstofflieferung auf Nitrofen analysiert wird.
Sie fühlen sich jetzt sicher: Statt Kunden und Öffentlichkeit zu unterrichten, kümmern sie sich um ihre Schadensersatzforderungen. Schon am 26. März fordert die GS agri von dem Getreidemakler Busse Regress, weil der Futterweizen vom 1. November erheblich mit Nitrofen belastet gewesen sei.
Busse wiederum hält sich am 27. März an seinen Lieferanten NSP, die NSP am 3. April an den Bauern in Stegelitz, der am 21. Mai auch noch einen scharfen Brief direkt von den Anwälten der GS agri bekommt. Der Einsatz von Nitrofen, schreiben die Juristen, sei strafbar und könne "darüber hinaus Grundlage für Eingriffsakte der zuständigen Überwachungsbehörden sein". Briefe über Briefe, nur den Verbraucher informiert niemand. Ein Kartell des Vertuschens und Verschweigens.
Getreidemakler Busse schaltet immerhin umgehend seine eigene Kontrollstelle ein, die Göttinger Gesellschaft für Ressourcenschutz, die sich in einer Telefonkonferenz mit den Kontrollstellen des Stegelitzer Betriebs und der NSP zusammenschaltet. Und wenigstens diese Herren wollen, das ist nun neu, nicht schweigen.
Mitte April bekommt das Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in Brandenburg endlich jenen Brief, der den zuständigen Referatsleiter vor einem aufziehenden Skandal in der Öko- Branche warnt "damit Sie von Anfang an über so eine Möglichkeit informiert sind". Doch die Bürokraten in Potsdam geraten ebenso wenig in Wallung wie die Lüneburger Bezirksregierung, bei der die Busse- Prüfer ebenfalls Alarm schlagen.
Und auch ein Gespräch, das am 25. März am Rande einer Tagung in Detmold zwischen einem Kulmbacher Fleischforscher und einem Vertreter des Landwirtschaftlichen Untersuchungs- und Forschungsamts Oldenburg stattfindet, bleibt ohne Folgen. Thema des kleinen Diskurses: die wachsende Zahl von Nitrofen- Untersuchungen. Da passt es ins Bild, dass auch der zuständige Biobauernverband "Naturland" nicht aufschreit, bei dem Grüne Wiesen und Wiesengold Mitglied sind. Spätestens im April weiß er über die Funde Bescheid und setzt darauf, dass andere reagieren.
Derweil, über Wochen und Monate bis in den April hinein, scheint es den Emsteker Putenerzeuger Grüne Wiesen nicht sonderlich zu kümmern, dass verseuchte Ware auf dem Tisch der Konsumenten landen könnte. Erst durch den Tipp eines Grüne-Wiesen- Konkurrenten erfahren deshalb Mitte April auch die Verantwortlichen des Wurstherstellers Meica im Ammerland von dem Nitrofen-Verdacht.
Meica stellt unter dem Namen "Bio-Krusenhof" seit der BSE-Krise Biogeflügelwurst her und bezieht dazu Putenfleisch aus Emstek. Nach dem anonymen Tipp lässt die Wurstfabrik nun im April drei Chargen Biowurst auf Nitrofen untersuchen. Als am 25. April die Ergebnisse vorliegen 2 von 3 Proben sind belastet , informiert Meica den Ammerländer Kreisveterinär Jörn Remmers, der die Untersuchung alter, zurückgestellter Proben veranlasst.
Das Resultat: Schon seit September haben die Meica- Würstchen immer wieder Nitrofen- Spuren enthalten, ohne dass dies bei den hauseigenen Routinekontrollen aufgefallen wäre. Auf Weisung von Remmers startet Meica daraufhin Ende April eine Rückrufaktion. Rund 80.000 Wurstgläser sollen aus den Supermarktregalen herausgenommen werden. Vermutlich rund die Hälfte lässt sich noch auftreiben. "Die restlichen Würstchen wurden wohl aufgegessen", glaubt Remmers.
Und nicht nur Meicas Nitrofen- Würstchen. Auch Eier und Geflügel der Naturkost-Vermarkter Tagwerk und Dennree in Bayern sind schon durch den Magen. Und in noch viel größerer Zahl die Produkte der Bioeigenmarken großer Ketten wie Metro, Real und Edeka. Sie alle beziehen ihr Biofood aus den Ställen von Grüne Wiesen oder Wiesengold.
Der Wurstverkäufer Meica zeigt sich nun selbst bei der Staatsanwaltschaft Oldenburg an. Am 29. April telefoniert auch Veterinär Remmers mit einem Ermittler in Oldenburg, schreibt am gleichen Tag eine Strafanzeige gegen unbekannt und informiert das niedersächsische Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit.
Doch es ist unglaublich, aber wahr wie sooft in dieser Affäre: Obwohl Remmers in seinem Brief die Quelle des belasteten Fleisches, die Firma Grüne Wiesen nennt, passiert an deren Firmensitz im nahen Kreis Cloppenburg wochenlang nichts.
Die Staatsanwaltschaft hat zwar am 6. Mai einen Brief auf den Dienstweg Richtung Cloppenburg gegeben. Doch erst am 16. Mai kommt das Schreiben beim Veterinär der Kreisverwaltung an. Einziger Inhalt: eine Bitte um Rückruf. Erst am 24. Mai, fast einen Monat nach dem Ammerländer Fund, stellt die Polizei 287 Tonnen Fleisch in einem Emsteker Kühlhaus und in der Grüne-Wiesen- Zentrale sicher.
Wäre sie schneller gewesen, hätte sie zumindest noch eine Lieferung von 20 Tonnen Bioputenfleisch ins russische Kaliningrad abfangen können. Die Staatsanwaltschaft geht heute dem Verdacht nach, der Putenzüchter habe sich des Nitrofen- Problems durch Export entledigen wollen.
Am 2. Mai schlägt dann auch das neue Frühwarnsystem bei GS agri zum ersten Mal Alarm: Wieder steckt Nitrofen im gelieferten Getreide. Zögerlich beginnt GS agri, schon ausgeliefertes Futter aus den Silos der Mäster und Eierhersteller gegen saubere Ware auszutauschen warum, das erfahren die Mäster nicht.
Ein Biohändler wird am 17. Mai immerhin schlauer: Eines seiner Wiesengold-Eier hat eine Nitrofen-Belastung von 0,02 Milligramm. Ein von Wiesengold-Chef Heinrich Tiemann eingeschaltetes Labor bestätigt fünf Tage später den Befund; Tiemann muss Hallen mieten, um ein paar Millionen Eier zurückzuholen oder ihre Auslieferung zu stoppen.
Doch das Ende der langen Heimlichtuerei läutet erst ein Anruf von Thomas Dosch am vorvergangenen Donnerstag im Berliner Verbraucherschutzministerium ein. Der Geschäftsführer vom Öko- Verband "Bioland" erzählt Staatssekretär Alexander Müller ganz nebenbei von dem Gerücht über Nitrofen- vergiftetes Futtergetreide. Von da erreicht das Gerücht das niedersächsische Landwirtschaftsministerium, und das Aufräumen beginnt.
Bei der Überprüfung aller Eigenkontrollen bei GS agri stellt sich heraus, dass rund ein Drittel aller aufbewahrten Proben genau 31 Nitrofen-belastet waren, davon drei mit extrem hohen Werten. Stark verseucht ist Getreide vom Hof im brandenburgischen Stegelitz, weniger belastet sind die Futtermittel von mindestens drei weiteren Höfen in Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und auch Mecklenburg-Vorpommern. Und von 26 neuen Testproben weisen immerhin noch 11 wenn auch nur leichte Rückstände auf.
Doch noch bis Ende vergangener Woche war nicht klar, wie das Nitrofen in die Futtermittel gelangte. Es gibt 3 Theorien.
Erstens: Sabotage. Öko-Bauern halten einen Anschlag für wahrscheinlich, der die Wachstumsbranche schädigen sollte; dagegen spricht, dass dann mehr als 30 Lastwagenladungen manipuliert worden sein müssten.
Zweitens: illegaler Pestizideinsatz. Doch dafür sind die Nitrofen-Werte viel zu hoch. Außerdem fand sich zumindest bei der Überprüfung restlicher Körner vom Hof in Stegelitz, der neben drei weiteren Betrieben in Verdacht geraten ist, kein Gift.
Drittens: Schlamperei. Irgendwo auf dem Weg vom Feld in die Futtermühle muss das Getreide direkt mit Nitrofen in Berührung gekommen sein.
Dass ein offener Nitrofen-Sack oder alte Rückstände in Lagern das Getreide verseucht haben könnten, hielten die Fachleute im niedersächsischen Ministerium zunächst für wahrscheinlich. Als aber am Donnerstagabend die Ergebnisse für die neuesten Proben vorlagen, wankte auch diese Theorie: Der kontrollierte Weizen war bei der Anlieferung noch sauber; als er aus der Mühle kam, enthielt er Nitrofen. Ein Indiz für ein Giftnest in der Anlage. Das wäre geschlagene sechs Monate nach dem ersten Fund noch ein weiterer handfester Skandal.
Die heißeste Spur aber ergab sich am vergangenen Freitag: Die R+V Versicherung in Wiesbaden, eingeschaltet von GS- agri-Chef Römann, hatte im April vom Chemischen Labor Dr. Wirts und Partner in Hannover eine Probe untersuchen lassen. Ergebnis: eine Rekordbelastung von 15,9 Milligramm pro Kilo Öko- Weizen. Noch brisanter: Die Probe enthielt drei weitere Pflanzenschutzmittel allesamt verboten und stammte nicht aus Öko- Anbau. Das Resultat, resümierten die Experten, "spricht für eine Vermischung des Öko- Futtergetreides mit belastetem Getreide aus konventionellem Anbau". Die Kontrolleure tippen auf Saatgut. Hat also jemand Restbestände an verbotenen Herbiziden über einer Charge Saatgut entsorgt, die auf irgendeinem Weg in der Öko- Mühle landete?
Die Verbraucher wissen derweil kaum noch, worüber sie sich mehr aufregen sollen: über die Futterpanscher, die Vertuscher oder die saumseligen Kontrolleure. Das Vertrauen eines Großteils der Bundesbürger in die grüne Ware ist angeknackst.
Während aber die Kunden um die Gesundheit fürchten, zittern die mehr als hundert gesperrten Biohöfe, auf denen GS- agri-Futter gelandet ist, um ihre Existenz. Allein die 1500 vergifteten Puten, die vorige Woche noch fröhlich vor der Haustür des Grüne-Wiesen- Mästers Martin Mucker aus dem niedersächsischen Ellenstedt scharrten, hatten vor dem Nitrofen-Fund einen Wert von 30.000 Euro. Jetzt sind sie ein Fall für die Futtermühle; allein in Mecklenburg-Vorpommern könnten nach Schätzungen von Agrarminister Till Backhaus (SPD) mehr als 60.000 Hühner für die Volksgesundheit geköpft werden.
Trotzdem traute sich Paul Römann, Geschäftsführer der GS agri, am Donnerstag vergangener Woche noch einmal, öffentlich Gift zu verteilen, nur dass das Gift diesmal nicht Nitrofen, sondern Chuzpe hieß. Offenbar, so argumentierte Römann, gegen dessen Firma nun die Staatsanwaltschaft Oldenburg ermittelt, seien doch weder Behörden noch Kontrollstellen von schwer wiegenden Gesundheitsgefahren ausgegangen. Wohl deshalb, exkulpierte sich der Futterbaron indirekt selbst, hätten sie weder Öffentlichkeit noch übergeordnete Stellen informiert. Die Behörden reagierten nun umgehend: Am Freitag schlossen sie die Öko- Mühle der GS agri.
Auch in Berlin war man für Spitzfindigkeiten nicht zu haben: Union und FDP forderten platt Künasts Rücktritt; dabei agierte die Opposition mindestens so dreist wie der Geschäftsführer der mutmaßlichen Giftschleuder in Schneiderkrug. Denn noch am Freitag ließen die unionsgeführten Länder Künast im Bundesrat bei zwei von drei Gesetzen auflaufen, mit denen diese die Verbraucher besser schützen wollte. So
Spätestens als die Unionsmehrheit beim Verbraucherinformationsgesetz auch noch den Ruf nach dem Vermittlungsausschuss ablehnte, war klar, was CDU und CSU nur müde bestreiten: Längst bestimmt der Wahlkampf das Bewusstsein.
- bekam die Ministerin lediglich eine Mehrheit für das Öko-Landbaugesetz, das die Kontrollstellen verpflichtet, Unstimmigkeiten auf Biohöfen zu melden;
- fiel andererseits das Verbraucherinformationsgesetz durch, mit dem die Hersteller verseuchter Lebensmittel öffentlich genannt und alle Ergebnisse von Lebensmittelkontrollen gemacht werden sollten;
- sperrte sich die Union außerdem gegen das Gesetz zur Neuorganisation des Verbraucherschutzes, mit dem eine zentrale Sammelstelle für Hinweise auf Lebensmittelschmu gegründet werden sollte.
Entsprechend gelassen reagierte auch der Kanzler auf die Hiobs-Botschaften der vergangenen Woche. Als Gerhard Schröder am Mittwoch die Kabinettsitzung vorzeitig verlassen musste, mahnte er schon im Aufbruch seine Regierungsmannschaft, der bedrängten Kollegin in nächster Zeit zur Seite zu stehen. Schröder: "Wir brauchen jetzt mehr Agrarwende, nicht weniger." [mehr]
Ö K O - F U T T E RNitrofen-Skandal ist Symptom der Pestizid-Wirtschaft in Deutschland
Aus: PAN Germany Pestizid Aktions Netzwerk, Hamburg, 3. Juni 2002 (Aktuelles). [Original]Dass eines der gefährlichsten Pestizide ausgerechnet in Lebensmitteln aus kontrolliert biologischem Anbau gefunden wurde, hielt die ökologische Landwirtschaft und die Bevölkerung gleichermaßen in Atem. Die Quelle der Kontamination ist nun endlich aufgeklärt. Dass der Öko-Landbau als solches nicht versagt hat, bestätigt mit Sicherheit die Öko-Konsumenten.
Die Schlußfolgerung aus diesem Skandal heißt: undurchsichtiger Handel plus nachlässige Behörden sind eine gefährliche Mischung für die Verbraucher, aber auch für das Image der Landwirtschaft. PAN Germany fordert daher grundsätzliche Maßnahmen, damit die Verbraucher wieder auf die hohe Qualität ihrer Lebensmittel vertrauen können:
Die PAN Germany Veröffentlichung Agrarwende auch im Pflanzenschutz Forderungskatalog enthält weitere Forderungen zum Schutz der Verbraucher und der Umwelt vor Pestiziden.
- Der Handel mit Futter- und Lebensmitteln muss durchsichtiger werden.
- Pestizid-Altlasten müssen ermittelt und beseitigt werden.
- Der Einsatz von Pestiziden in Lagerhallen und in der landwirtschaftlichen Produktion muss dokumentiert werden und für Kontrollbehörden aber auch die weiterverarbeitende Industrie offengelegt werden.
- Der Einsatz von Pestiziden muss generell reduziert werden, Rückstände dürfen gar nicht erst entstehen (siehe PAN Germany Projekt From Law to Field).
- Die Behörden und Politiker müssen endlich das Thema Pestizid-Rückstände in Nahrungsmitteln ernst nehmen und ein effizientes Warnsystem zum Schutz der Verbraucher aufbauen (siehe PAN Pressemitteilung vom 14. März 2002).
Nitrofen-Verseuchung auch bei Schweinen
Nach der Aufklärung über die Ursachen des Nitrofen-Skandals erweist es sich, dass verseuchtes Öko-Tierfutter offenbar weiter gestreut wurde als gedacht. Nach Rinder- und Schweinemastbetrieben in Niedersachsen ist das vergiftete Futter auch in die Schweinemast in Rheinland-Pfalz gelangt.
Aus: Spiegel-Online, Hamburg, 3. Juni 2002, ??.?? Uhr (nur elektronisch publiziert). [Original]MAINZ. Die Landwirtschaftskammer Rheinland in Bonn hat einen Prüfbericht veröffentlicht, laut dem das "Öko- Ergänzungsfutter fein" für Schweine hochgradig belastet ist. Das teilte das ZDF mit. Ein Landwirt aus dem Raum Paderborn habe das vom Tierfutterlieferanten GS agri in Niedersachsen gekaufte Futter im Labor untersuchen lassen. Laut Prüfbericht wurde in der Schweinespeise ein um das 8-fache erhöhter Nitrofen- Wert ermittelt.
In einer Futtervariante, dem so genannten "pelletierten Schweinemastfutter" seien sogar noch deutlich höhere Werte gemessen worden, hieß es. Bisher seien Nitrofen- Rückstände nur im Körnerfutter nachgewiesen worden. Jetzt sei erstmals ein Futterzusatz betroffen, der nicht aus Getreide bestehe. Ein Teil der mit dem Öko-Futter gemästeten Schweine des betroffenen Hofes solle jetzt getötet werden, um herauszufinden, ob auch ihr Fleisch ebenfalls mit Nitrofen verseucht ist.
In Mecklenburg-Vorpommern hat eine Sonderkommission des Landeskriminalamtes mit 21 Beamten Ermittlungen aufgenommen. Dort wird seit Samstag [1.6.2002] gegen die Norddeutsche Saat- und Pflanzgut AG (NSP) Neubrandenburg wegen Verdacht des Verstoßes gegen das Futtermittelgesetz ermittelt.
Die NSP war nach eigenen Angaben über die frühere Nutzung einer Lagerhalle in Malchin nicht informiert, in der das Getreide mit dem Gift in Berührung gekommen sein muss. Im Mietvertrag sei ausdrücklich die Nutzung der Halle zur Zwischenlagerung von Getreide vereinbart, teilte die NSP- Geschäftsführung heute mit. Den Namen des Vermieters wollte der Firmensprecher nicht nennen. Der Vermieter habe nicht auf Vornutzungen hingewiesen, die dem vertraglich vereinbarten Nutzungszweck entgegenstehen.
Hat die Öko-Prüfstelle versagt?
Die Geschäftsführung der NSP wies weiter darauf hin, dass die Halle, die seit August 2001 gemietet ist, sauber übergeben worden sei. Die Grünstempel Ökoprüfstelle habe die Öko- Abteilung der NSP mit der Betriebsstätte in Malchin inspiziert. Hinweise zu Risiken in der Lagerhaltung oder Beanstandungen habe es nicht gegeben.Als Konsequenz aus dem Nitrofen-Skandal wollen die Grünen, kurz nachdem das von Grünen- Ministerin Renate Künast konzipierte Verbraucherschutzgesetz im Bundesrat gescheitert ist, die Hersteller und Händler gesetzlich verpflichten, in gravierenden Fällen Rückrufaktionen gegenüber Verbrauchern und Behörden öffentlich zu machen. Dazu solle das Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz erweitert werden, beschloss der Parteirat der Grünen in Berlin.
Die Grünen nehmen die Bio-Bauern ausdrücklich in Schutz. Sie treffe keine Schuld an den Verunreinigungen des Futtergetreides, heißt es in dem Beschluss. Auch seien die Nitrofen-Funde "allein auf die besonders strengen Qualitätskontrollen" der Hersteller von Bio-Lebensmitteln zurückzuführen. Allerdings sei "ein Teil der Fehler auch im Ökobereich zu suchen". Genannt wird die "stille" statt öffentlicher Rückholaktion.
Der Grünen- Vorsitzende Fritz Kuhn übte scharfe Kritik an den Aufsichtsgremien der am Nitrofen-Skandal beteiligten Raiffeisen- Betriebe. Insbesondere die Aufsichtspersonen aus den Reihen des Deutschen Bauernverbandes müssten das Versagen in diesem Skandal lückenlos aufklären.
Für viele Öko- Bauern bedeutet der Nitrofen-Skandal starke Einkommenseinbußen. In Nordrhein- Westfalen bereitet sich eine Interessengemeinschaft darauf vor, Schadensersatzforderungen zu stellen. Wie der Landwirtschaftsverband Westfalen- Lippe heute mitteilte, werden die Betriebsleiter von Öko- Betrieben von 2 Münsteraner Anwälten unterstützt, die beim niedersächsischen Futterlieferanten GS agri ihre Ansprüche geltend machen wollen. Auch im Agrarministerium werde darüber beraten, ob und wie den Landwirten Rechtshilfe gewährt werden kann, sagte ein Sprecher in Düsseldorf.
Trotz der positiven Nitrofentests in Futter- und Fleischproben aus nordrhein- westfälischen Ökobetrieben sind nach Ministeriumsangaben bislang keine Tötungsaktionen angelaufen. Es werde jeweils im Einzelfall entschieden. Bereits geschlachtete Tiere aus den gesperrten 11 Höfen kämen keinesfalls in den Handel. [mehr]
N I T R O F E NAcrylamid in Lebensmitteln
Fehlendes Know-how Staatlicher Untersuchungsstellen?
Aus: Verband unabhängiger Prüflaboratorien (VUP), 5. Juni 2002, ??.?? Uhr (Pressemitteilung). [Original]GIEßEN (VUP). Mit Unverständnis hat der Deutsche Verband Unabhängiger Prüflaboratorien (VUP) auf die Verlautbarung (05.06.2002) der Bundesministerin für Verbraucherschutz reagiert, wonach die Ergebnisse eines PlusMinus- Tests zur Acrylamid- Belastung von Lebensmitteln im Labor falsch berechnet seien und deshalb zu einer Verunsicherung des Verbrauchers beitrügen. Auch sei nach Kühnasts Auffassung die Problematik nicht mit dem Thema "BSE" vergleichbar.
Acrylamid wird eine genschädigende und krebserregende Wirkung zugesprochen. Nach Untersuchungen der schwedischen Gesundheitsbehörde und alarmierenden Ergebnissen, hatte die WDR-Sendung PlusMinus stichprobenartig auch in Deutschland 20 Lebensmittel untersuchen lassen. Die Ergebnisse waren mit den skandinavischen vergleichbar: Der Grenzwert für Lebensmittelverpackungen [Ed: 10 mg/kg] wurde teilweise um das hundertfache überschritten.
Das Bundesministerium für Verbraucherschutz hatte diese Problematik zwar Ende April 2002 kurz nach der Veröffentlichung der schwedischen Lebensmittelbehörde aufgegriffen, jedoch darauf bisher lediglich mit einer Expertendiskussion im Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz (BgVV) reagiert.
Ergebnis dieser Diskussion: Zu der Frage des Nachweises von Acrylamid in Lebensmitteln steht eine nachvollziehbare Beschreibung der angewendeten Analyse- Verfahren noch aus. Ein validiertes Nachweisverfahren sei jedoch der erste Schritt, der erforderlich ist, um Sachaufklärung zu betreiben. Dieser Schritt werde nach Auskunft der staatlichen Verbraucherschützer noch einen gewissen Zeitraum in Anspruch nehmen.
Gerade hier aber ergäben sich Parallelen zu den BSE-Tests, stellt der VUP fest. Dieses führe innerhalb des Verbandes zu der Vermutung, dass die Staatlichen Untersuchungsstellen anscheinend noch nicht über das entsprechende analytische Know-how verfügen und in der Lage sind stichprobenartige Kontrollen durchzuführen. Dagegen konnte der Verband auf Anfrage der PlusMinus- Redaktion gleich mehrere private Dienstleistungslaboratorien mit nach internationaler Norm akkreditiertem Qualitätsmanagement benennen, die in der Lage waren diese Untersuchungen durchzuführen und dabei ein gebräuchliches und international anerkanntes Verfahren zum Nachweis des Schadstoffs in Wasser auf Lebensmittel übertrugen.
Die jetzt von PlusMinus veröffentlichten und in einem dieser privaten Dienstleistungs- Laboratorien ermittelten und durch Kontrolluntersuchungen überprüften Ergebnisse bestätigen die schwedischen Untersuchungen. In einem Punkt sind sich der VUP und Deutschlands Verbraucherschutzministerin jedoch einig: Die Verbraucher sind weitestgehend über Schadstoffbelastungen und davon ausgehende Risiken zu unterrichten. Alle Beteiligten sind aber auch in der Verantwortung, weitere Verunsicherungen des Verbrauchers zu vermeiden, heißt es in einer Erklärung des VUP.
Ö K O - S K A N D A LSchon seit einem Jahr in der Nahrungskette
Der Futtermittelhersteller GS agri hat offenbar früher als bisher angenommen Nitrofen-verseuchtes Biofutter ausgeliefert. Das verbotene Pflanzengift soll dadurch schon vor mindestens einem Jahr in die Nahrungskette gelangt sein.
Hinweis auf: Spiegel-Online, Hamburg, 5. Juni 2002, ??.?? Uhr (nur elektronisch publiziert). [Original]HANNOVER/BERLIN. Nachdem in Bio-Geflügelprodukten vom vergangenen September Rückstände der Chemikalie gefunden wurden, fahnden die Behörden nun nach weiteren Verursachern.
Es seien Nitrofen-Rückstände in Geflügelfleischprodukten vom September 2001 bekannt geworden, teilte Staatssekretär Dietmar Schulz heute in Hannover mit. Deshalb sei davon auszugehen, dass der niedersächsische Futtermittelhersteller GS agri bereits früher als bisher angenommen belastetes Bio- Futter ausgeliefert habe. Bei einer Mastzeit von 4 Monaten könne belastetes Getreide also bereits im Frühsommer 2001 verfüttert worden sein. Bei GS agri würden nun Rückstellproben des Futters aus dieser Zeit untersucht. Auch die Frage nach der Herkunft des Nitrofens stelle sich damit neu, sagte Schulz.
Bislang waren die Behörden davon ausgegangen, dass Nitrofen- haltiges Futtergetreide erst von November 2001 an bei GS agri in Niedersachsen zu Tierfutter verarbeitet und an Bio- Betriebe ausgeliefert worden war. Als Quelle galt eine mit Nitrofenstaub verseuchte Lagerhalle in Malchin in Mecklenburg- Vorpommern. Von dort war ab November Bio- Getreide an GS agri geliefert worden. Allerdings hatte Mecklenburg- Vorpommerns Agrarminister Till Backhaus (SPD) bereits gestern erklärt, seiner Ansicht nach müsse es weitere Verursacher für die Getreide- Verseuchung geben.
Verbraucherschutzministerin Renate Künast (Grüne) zeigte sich vor Journalisten in Berlin sichtlich angespannt und wollte die jüngste Entwicklung des Nitrofen- Skandals zunächst nicht kommentieren. Im Ministerium hieß es später, falls sich der Verdacht einer Belastung bereits im September [2001] bestätige, müsse nach weiteren Verursachern gesucht werden. Für Donnerstag [6.6.2002] ist eine Regierungserklärung Künasts im Bundestag geplant.
Die niedersächsischen Behörden versuchten unterdessen, sämtliche früheren Futterlieferungen von GS agri an Bio-Betriebe zu rekonstruieren, um diese vorsorglich zu sperren, falls sie noch Fleischkonserven aus der Zeit vor November vorrätig hätten.
Bio-Putenwürstchen wurden umgehend zurückgerufen
Die September-Probe aus Bio- Putenwürstchen war nach Angaben des Landesagrarministeriums erst kürzlich bekannt geworden. Das Bio- Tochterunternehmen Krusenhof des Würstchenherstellers Meica hatte nach ersten Hinweisen auf Nitrofen- Belastungen am 25. April Selbstanzeige erstattet. Danach seien zurückgerufene Waren untersucht worden. Dabei sei eine Würstchenprobe aus der Produktion von Anfang September positiv getestet worden. Ob das Fleisch wie in anderen Fällen von der Bio- Erzeugergemeinschaft "Grüne Wiesen Biohöfe" geliefert worden sei, stehe noch nicht fest. Diese bezog ihr Futter größtenteils von GS agri. Die Selbstanzeige vom 25. April hatte staatsanwaltliche Ermittlungen ausgelöst. Öffentlich bekannt wurde der Nitrofen- Skandal aber erst einen Monat später.Mittlerweile fahnden 10 Bundesländer sowie Dänemark, Niederlande, Belgien und Österreich nach dem Verbleib von Nitrofen haltigem Geflügelfleisch von "Grüne Wiesen Biohöfe". Ein Großteil der Produkte ist nach bisherigen Erkenntnissen bereits verzehrt worden. Die Verbraucherzentrale Hamburg hat nach dem Auftauchen von belasteten Produkten in der Hansestadt auf ihrer Internet- Seite www.vzhh.de sämtliche wegen Nitrofen- Verdachtes zurückgerufenen Produkte mit vollem Namen aufgeführt. Dies ist nach dem Gesetz Behörden bisher untersagt.
Bauernverband fordert Soforthilfen für Biobauern
Der Deutsche Bauernverband (DBV) forderte für Bio-Landwirte ein staatliches Soforthilfeprogramm. DBV-Generalsekretär Helmut Born sagte, zurzeit sei der Umsatz von Bio-Erzeugnissen um 50 % zurückgegangen. Bei einem unterstellten Umsatzrückgang von 20 % im gesamten Jahr drohten der Branche Schäden in Höhe von 540 Millionen Euro. Von dem Nitrofen- Skandal direkt betroffen seien 100 Betriebe, deren belastete Futtermittel und Tierbestände nun unbürokratisch entsorgt werden müssten.Der Deutsche Raiffeisen- Verband, dem die bislang in den Nitrofen- Skandal verwickelten Firmen angehören, wies auf seinem Verbandstag [in Oldenburg] eine pauschale Kritik an dem Verband zurück. Man könne nicht 3600 Mitgliedsgenossenschaften kontrollieren.
Die R+V Versicherung der Volks- und Raiffeisenbanken hat wegen einer Verwicklung von Kunden in den Nitrofen- Skandal Rückstellungen in Millionenhöhe vorgenommen. R+V ist nach eigenen Angaben auch der Haftpflichtversicherer von GS agri. [mehr]
Die große Bio-Illusion
Der Nitrofen- Skandal zeigt: Die meisten Deutschen verkennen die ökologische Landwirtschaft. Sie folgt längst den Gesetzen der industriellen Produktion.
Aus: DIE ZEIT Nr. 24/2002, 6. Juni 2002, Seite ?? (Wirtschaft). [Original]Eine Zeit lang war alles gut zumindest das Essen. Von der Rinderseuche BSE sprach niemand mehr, Nitrofen kannten nur Fachleute, und in den Supermarktregalen lagen die Eier von glücklichen Hühnern. Im vergangenen Herbst untersuchten die Kieler Agrarökonomen Maike Bruhn und Reimar von Alvensleben, was sich die Deutschen unter Bioprodukten so alles vorstellen. Ergebnis: Die meisten erwarten besonders gesunde, ungespritzte Lebensmittel ohne Chemie.
"Eine Illusion", sagt von Alvensleben. Und meint nicht den jüngsten Skandal um vergifteten Ökoweizen. Der Großteil der Verbraucher hat schlicht eine falsche Vorstellung, wie grüne Landwirtschaft funktioniert.
Seit Jahren wächst die Branche um zweistellige Prozentwerte. Die deutschen Biobauern bewirtschaften inzwischen mehr als 655.000 Hektar Land eine Fläche, zweieinhalbmal so groß wie das Saarland, fast 4 % der gesamten landwirtschaftlichen Fläche in der Bundesrepublik. Ende des Jahrzehnts, so der Plan von Verbraucherministerin Renate Künast, sollen es schon 20 % sein. Die grüne Politikerin versprach eine Agrarwende: die Abkehr von der klassischen Landwirtschaft mit Massentierhaltung, Chemiecocktails und Nahrungsfabriken. Und nährte damit den Irrglauben, bärtige Kleinbauern auf idyllischen Höfen könnten das halbe Land ernähren.
Tatsache ist: Ökolebensmittel sind eine Massenware. Biolandwirte haben dieselben Probleme wie konventionelle Bauern und arbeiten unter dem Wachstumsdruck womöglich bald ebenso industriell.
Das Etikett. Seit Anfang der neunziger Jahre sind die Begriffe Öko und Bio gesetzlich geschützt. Laut EG-Öko-Verordnung dürfen sie nur von Betrieben verwendet werden, die nach europäischem Recht zertifiziert sind und regelmäßig kontrolliert werden (siehe Grafik). Diese Betriebe dürfen seit Herbst das staatliche Biosiegel verwenden. Die Zutaten für ihre Produkte müssen aber nur zu 95 % aus dem biologischen Landbau stammen.
"Öko light", sagen dazu die Vertreter von Anbauverbänden wie Demeter, Bioland, Naturland und Biopark. Für ihre Mitglieder gelten zusätzliche Regeln. Nach europäischem Recht darf ein Hühnerhalter das gesamte Futter zukaufen. Ein Bioland-Bauer muss mehr als die Hälfte selbst anbauen. Denn wer Futter zukauft, weiß nie, ob der Lieferant panscht. Neun verschiedene Verbände gibt es hierzulande, 60 % der mehr als 14.000 Ökobetriebe gehören zu ihnen. Der Rest wirtschaftet ausschließlich unter dem Biosiegel.
Riskante Produktion. Durch ihr schnelles Wachstum gerät die Biobranche in eine gefährliche Abhängigkeit von Futtermittelherstellern und Verarbeitungsbetrieben. Wer in die großen Supermärkte will, muss deren Regeln akzeptieren: Lieferpflichten, Zwischenhändler und Profilogistik mit weiten Transportwegen. "Wir müssen fragen, ob es richtig war, teilweise industrielle Agrarstrukturen zu übernehmen", sagt Renée Herrenkind vom Demeter- Verband.
Für eine Antwort könnte es zu spät sein. Längst sind Teile der Branche mit konventionellen Betrieben verwoben. So arbeitet der Biopark-Verband in Mecklenburg- Vorpommern eng mit dem Hühnerhof Heidegold zusammen. Heidegold gehört zu den größten deutschen Eierproduzenten, mit industrieller Massentierhaltung in Käfigen. Vier Hühnerfarmen betreibt Heidegold für Biopark mit insgesamt 40.000 Tieren. Sie leben allerdings nicht in Käfigen, sondern haben Auslauf. Bioeier würden eben nicht mehr produziert wie zu Großmutters Zeiten, sagt die Biopark- Verbandsvorsitzende Heide- Dörte Matthes. "Erst durch eine hohe Angebotsmenge ist auch eine kontinuierliche Belieferung des Lebensmitteleinzelhandels möglich."
Die Futter-Falle. Tierfutter ist die Schwachstelle bei der Massenproduktion von Bioware. Vor allem Schweine und Hühner brauchen viel Getreide. "Das 20-%-Ziel ist bei Schweinen und Geflügel mit 100 % Biofutter kaum zu schaffen. Es gibt einfach eine Wachstumsgrenze bei ökologisch erzeugten Futtermitteln", sagt Ulrich Schumacher, Referent für Tierhaltung beim Bioland- Verband. Bauern müssen fremdes Futter kaufen von Leuten, die sie nicht immer kontrollieren können. Die Nitrofen- und BSE- Skandale haben gezeigt, welches Risiko im zugekauften Futter liegt. Der Nitrofen-Weizen stammte aus einer Halle, in der einst Pflanzengifte lagerten. Hauptschuld an BSE hatte der Brauch, Rinder mit Tiermehl zu füttern.
"Auch Biobauern halten hoch gezüchtete Leistungshühner. Die werden extrem aggressiv, wenn sie nicht genug Eiweiß kriegen", sagt Ulrich Jasper von der Arbeitsgemeinschaft Bäuerliche Landwirtschaft und Autor eines Buches über die Agrarwende. "Deshalb kaufen auch Biogeflügelhalter fremdes Eiweiß zu: Kartoffeleiweiß und Soja, das sogar aus China importiert wird. Und wenn nichts mehr hilft, verschreibt der Tierarzt synthetische Aminosäuren. Ein Ökoverband hat sogar einem industriellen Hennenhalter eine Ausnahmegenehmigung erteilt, die Schnäbel zu kupieren."
Brutaler Preisdruck. Gesunde und glückliche Hühner? Rechnen sich oft nicht. Kauft ein Biobauer Küken, die ohne synthetische Aminosäuren groß wurden und ausschließlich Biofutter bekommen, muss er zusätzliche 3 Cent pro Ei kalkulieren. Im Großhandel läge der Preis somit 25 % über dem Durchschnitt für Bioeier. "Wer das verlangt, ist raus aus dem Geschäft", sagt ein Halter von Biohennen.
Der Preisdruck hat Folgen: Auch kleine Biobauernhöfe setzen Hybridhühner ein Hochleistungstiere, über Jahrzehnte auf optimale Futterverwertung gezüchtet. Ein Hybridhuhn macht aus zwei Kilo Futter ein Kilo Ei, die alten Rassehühner brauchen dafür vier bis fünf Kilo Futter. Die Basiszuchtlinien der Hybridhühner gehören weltweit 6 Firmen. Das Problem der Biobauern: Diese Firmen züchten Käfighennen, von denen viele unter Freilandbedingungen gar nicht mehr zurechtkommen. "Die legen sich tot und sind anfällig für alle Krankheiten", sagt Ulrich Schumacher vom Bioland- Verband. Die Zucht von leistungsfähigen Freilandhühnern ist jahrelang vernachlässigt worden. Doch die Kunden wollen trotzdem Bioeier und die Branche muss liefern.
Das Märchen vom Pflanzenschutz. "Die Behauptung, Ökolandwirte würden keine Pflanzenschutzmittel einsetzen, ist totaler Quatsch", sagt Stefan Kühne, Leiter des Fachbereichs ökologischer Landbau der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft (BBA). Jeder unter dem Biossiegel wirtschaftende Bauer darf 95 verschiedene Pflanzenschutzmittel benutzen, um seine Felder vor Krankheiten und Schädlingen zu bewahren rechtlich zulässig und im Vergleich zu konventionellen Landwirten noch wenig.
Unter den zugelassenen Mitteln befinden sich sogar zwei von Branchen- Hardlinern verpönte weil synthetische Gifte gegen Schnecken und Insekten. Alle anderen Mittel haben eine pflanzliche oder tierische Basis, Minzöl zum Beispiel oder Gelatine. "Aber zum Teil sind durchaus problematische Stoffe wie Kupfer darunter", sagt Kühne. Das Schwermetall kommt zwar in der Natur vor, ist aber ein giftiger Reizstoff. Doch schon seit Jahrzehnten wird Kupfer im Weinbau als wirksames Pilzmittel verwendet. Und brauchbare Alternativen sind rar. Auch der Anbauverband Demeter erlaubt seinen Mitgliedern den Einsatz von Kupfer allerdings in niedrigeren Dosen als nach Europarecht möglich.
Die Natur geht mit Biobauern nicht rücksichtsvoller um als mit konventionellen. Nur kann sich ein Ökobetrieb manchmal schlechter wehren. Ein Beispiel: In etwa 2 Jahren werden es deutsche Landwirte mit einem aggressiven Käfer aus Amerika zu tun bekommen: dem Maiswurzelbohrer. Diesem Schädling lässt sich fast nur mit Chemie beikommen. "Dem hat die Ökobranche nicht viel entgegenzusetzen", sagt Pflanzenschutzexperte Kühne. Anfang der Neunziger schleppten US-Militärs den Käfer nach Ex-Jugoslawien ein. Inzwischen hat er sich bis Tschechien durchgefressen.
Die Prüfer. 22 private Unternehmen überwachen bundesweit die Qualität der Ökolebensmittel. Sie unterstehen den Behörden der Länder und prüfen, ob ein Betrieb die Vorschriften der EG-Öko- Verordnung einhält (siehe Grafik). Allein dadurch wird ein Biobetrieb schärfer kontrolliert als ein konventioneller. Der Beleg findet sich im Kleingedruckten: "Aus kontrolliert ökologischem Anbau DE-013- Öko-Kontrollstelle" steht etwa auf einer vegetarischen Bolognese. "DE" steht für Deutschland, die Zahl für den Kontrolleur. Der überprüft auch die strengeren Regeln der Anbauverbände.
Will ein Landwirt Bioprodukte verkaufen, muss er ein penibler Buchhalter sein noch stärker als seine konventionelle Konkurrenz. Aussaattermine, Fruchtfolgen und Tierbestand muss er dokumentieren, ebenso Ursprung, Art und Menge zugekaufter Betriebsmittel. Nur so lässt sich Giftstoffen wie Nitrofen auf die Spur kommen. Die Kontrolleure prüfen vor allem auf Plausibilität. Kann der Landwirt mit seiner Ackerfläche den angegebenen Ertrag erwirtschaften? Nur: Gegen gefälschte Bücher sind die Prüfer meist machtlos.
"Jeden Januar bekommen wir unsere Höfe für das Jahr zugeteilt. Wie ich mir dann die Kontrollen einteile, kann ich selbst entscheiden", sagt Katharina Mittelstraß, die für die Kontrollfirma alicon arbeitet. An die 50 Höfe besucht sie zwischen März und August, je nach Größe dauern die Kontrollen mehrere Stunden oder Tage. Jeder Hof wird einmal im Jahr besucht, bei jedem zehnten kommen Mittelstraß und Kollegen unangemeldet vorbei. Meistens dort, wo "es uns irgendwie mulmig vorkam", sagt Mittelstraß.
Doch Proben schicken die Prüfer nur bei hartem Verdacht an ein Labor. "Wir analysieren nicht jedes einzelne Getreidekorn, das kann keiner bezahlen", sagt Jochen Neuendorff, Vorstand der Konferenz der Kontrollstellen. Schon jetzt zahlt ein kleinerer Biohof bis zu 750 Euro für die Kontrollen. Neue Betriebe, sagt Katharina Mittelstraß, wirtschafteten immer öfter nach europäischem Recht und nicht mehr nach den strengeren Regeln der Anbauverbände. Denn die zu kontrollieren kostet zusätzlich. "Die haben nicht mehr den Idealismus wie die Pioniere des Biolandbaus vor 20 Jahren", sagt Mittelstraß. "Die rechnen knallhart."
Die Schwachstellen. Der Nitrofen-Skandal hätte möglicherweise verhindert werden können, wären Informationen schneller weitergegeben worden. "Wir brauchen unbedingt ein Schnellwarnsystem", fordert Neuendorff. "Die kontrollierten Unternehmen müssen solche Dinge sofort melden. Auch den Kontrollstellen muss ermöglicht werden, Daten auszutauschen." Bislang lässt die EG-Öko- Verordnung das nicht zu. Und noch einen anderen Fehler im System hat der Nitrofen- Fund offensichtlich gemacht: Die EG-Öko- Verordnung greift bislang nicht für Futtermittelwerke, die Ökobetriebe mit Mischfutter beliefern.
Immerhin: Ende Mai stimmte der Bundesrat dem neuen Öko- Landbaugesetz zu. Die Kontrollstellen werden verpflichtet, den Behörden zu melden, wenn ein Betrieb gegen die Öko- Verordnung verstößt. Bislang müssen sie das nur, wenn sie gravierende Folgen befürchten. Mögliche Irrtümer eingeschlossen. Über die Zulassung neuer Kontrollstellen wacht demnächst die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung in Frankfurt. Sie kontrolliert auch den Vertrieb ausländischer Ökoprodukte in Deutschland.
Mit zwei weiteren Gesetzen ist Ministerin Künast an der CDU/FDP- Opposition im Bundesrat gescheitert. Neue Behörden, die Risiken von Lebensmitteln einordnen, wird es vorerst nicht geben. Einen Anspruch, sich bei Ämtern über Produkte und deren Inhalt informieren zu können, ebenso wenig. Gegen Schlamperei und Kriminalität aber hätten diese Vorschriften auch nicht geholfen. [mehr]
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