N I T R O F E N - S K A N D A LEU droht mit Sanktionen
Die EU erwägt ein Verkaufsverbot deutscher Öko-Lebensmittel, inzwischen gibt es neue Erkenntnisse über den Ursprung der Verseuchung. Angesichts der drohenden Sanktionen verstärkten Bund und Länder unter Hochdruck ihre Ermittlungen im Nitrofen-Skandal.
Aus: Focus-Online, München, 8. Juni 2002, 18.46 Uhr (nur elektronisch publiziert). [Original]BERLIN. Aus einer verseuchten Lagerhalle in Malchin (Mecklenburg- Vorpommern) wurde deutlich früher Futtergetreide ausgeliefert als bislang angenommen, wie der Staatssekretär im Bundesverbraucherministerium, Alexander Müller (Grüne), heute in Berlin mitteilte.
Die Agrar-Staatssekretäre von Bund und Ländern kommen am Sonntag [9.6.2002] zu einer Krisensitzung zusammen. Bis zum Abend wollen sie einen umfangreichen Bericht über alle Maßnahmen nach Brüssel liefern. Ein mögliches EU-Verkaufsverbot von deutschen Öko- Produkten soll damit verhindert werden.
Fast 20 Tonnen Futtergerste aus der [NSP-] Halle in Malchin seien am 31. Juli über einen Zwischenhändler an die niedersächsische Futtermittelfirma GS agri geliefert worden. Das habe die verschärfte Buchprüfung des Zwischenhändlers ergeben. Damit werde es immer unwahrscheinlicher, dass es eine zweite Quelle der Verunreinigungen mit dem Unkrautvernichtungsmittel gebe, wie es Niedersachsen vermute, sagte Staatssekretär Müller.
Die bislang rätselhaften Nitrofen- Funde in bereits im September produzierten Würstchen der Firma Meica seien möglicherweise durch die neuen Erkenntnisse zu erklären. Die Puten könnten in der Endmast bereits mit dem Getreide aus Malchin gefüttert worden sein, sagte Müller. Bislang hatte es geheißen, dass die Malchiner Halle am 1. August 2001 angemietet und Getreide erst ab 6. September an GS agri geliefert worden sei.
Nitrofen jetzt ein EU-Thema
Müller bestätigte einen Bericht, dass die EU-Kommission am Montag [10.6.2002] über den Nitrofen- Skandal beraten wolle. Er gehe aber nicht von einem generellen Verkaufsverbot für deutsche Öko- Lebensmittel aus. Er wies darauf hin, dass in Deutschland bereits 90 Öko- Betriebsstätten gesperrt seien und eine umfangreiche Rückrufaktion im Gang sei.Wir werden der Kommission jetzt alle Fragen zu Malchin beantworten, sagte Müller. Mit dem Bericht an Brüssel solle die EU- Kommission davon überzeugt werden, dass die Länder mit ihren Maßnahmen einen weitestgehenden Schutz für die Verbraucher gewährleisteten. Von den Ländern werde er in der Krisensitzung verlangen, dass sie in eigener Regie bei Nitrofen- Verdachtsfällen sofort Schutzmaßnahmen ergreifen.
Anlass für die Sanktionspläne Brüssels seien Berichte, dass es möglicherweise neben der Lagerhalle in Malchin eine zweite Quelle für Nitrofen- Belastungen von Futtergetreide gebe. Diese hätten zu der besorgten Frage geführt, ob das Nitrofen- Problem in Deutschland nicht viel größer sei als bisher angenommen. [mehr]
Nitrofen auch in Brötchen?
9.6.2002 (foc). Nach einem weiteren Focus-Bericht gingen im vergangenen Jahr nicht nur Lieferungen mit Futtermitteln, sondern auch "Bio- Dinkel für Speisezwecke, Vollkornmehl, Brotweizen und Bio- Roggen aus dem ehemaligen Pestizidlager in Malchin an verschiedene Abnehmer. Demnach könnten ökologisch orientierte Konsumenten viel direkter als bislang befürchtet, nämlich über ihre Brötchen, Nitrofen zu sich genommen haben."Die Nachrichten-Illustrierte Focus hat diese Informationen einer ihr vorliegenden Auflistung aus Ermittlerkreisen entnommen. Vom Nachrichten- Magazin Der Spiegel werden diese Angaben in seiner morgigen Ausgabe bestätigt. [mehr]
E U R O P A , D I E D E U T S C H E N U N D D A S N I T R O F E NDeutscher Bio-Ware droht Verbot der EU
EU-Kommission entscheidet Anfang der Woche über Verkaufssperre / Viele Öko-Betriebe befürchten das Aus
Aus: Der Tagesspiegel am Sonntag, Berlin, 9. Juni 2002, Seite 1 (Hauptartikel). Dokumentiert wird hier die Print- Fassung des Artikels. [Original]BERLIN. Die EU-Kommission erwägt, Anfang kommender Woche deutsche Bioprodukte und Öko- Futtermittel europaweit zu sperren. Wir überlegen, ob wir als Vorsichtsmaßnahme die Grenzen für ein paar Tage zumachen, sagte die Sprecherin von Verbraucherschutzkommissar David Byrne dem Tagesspiegel am Sonntag. Während Bio- Verbände gegen mögliche Sanktionen aus Brüssel protestierten, äußerte das Verbraucherschutzministerium in Berlin Verständnis für die Überlegungen der Kommission. Staatssekretär Alexander Müller (Grüne) im Bundesagrarministerium geht aber nicht von einem generellen Verkaufsverbot aus.
Die Sprecherin des EU-Verbraucherkommissars, Beate Gminder, sieht im Nitrofen- Skandal Grund zur Besorgnis. Belgien verlange daher als erstes EU-Land ab Montag [10.6.2002] ein Zertifikat Nitrofen-frei für den Import von deutschen Bio- Produkten. Anfang der Woche werde die Kommission über eine mögliche Sperre für deutsche Öko- Ware entscheiden, voraussichtlich am 17. Juni sollen Rückstandshöchstgrenzen für Nitrofen festgelegt werden. Die EU-Länder müssten dann ihre Lebensmittel wieder auf das Pflanzengift kontrollieren. Weil Nitrofen schon lange verboten ist, sind diese Kontrollen nicht mehr vorgeschrieben. Nur die Niederlande überprüfen ihre Produkte noch regelmäßig.
Wir teilen die Linie der Kommission, dass auf keinen Fall nitrofenbelastete Produkte an den Verbraucher gelangen dürfen, sagte Staatssekretär Müller. Er gehe aber nicht von einem generellen Verkaufsstopp für Bio- Produkte aus. Ausgenommen werden sollen Betriebe, die nachweislich ihre Tiere nicht mit nitrofenbelastetem Getreide gefüttert haben und Betriebe, die ihr Biofutter selbst herstellen.
Die Arbeitsgemeinschaft ökologischer Landbau (AgöL) fürchtet für die rund 14.000 deutschen Öko- Betriebe fatale Folgen. Das wäre für die Betroffenen eine Katastrophe, sagte AgöL-Chef Felix Prinz zu Löwenstein. Er warf der EU-Kommission vor, völlig unverhältnismäßig zu handeln. Auch Thomas Dosch, Bundesgeschäftsführer des Bio-Bauern- Verbandes Bioland, befürchtet bei einer Sperre das Ende für viele deutsche Bio- Betriebe. Der Sprecher des Deutschen Bauernverband, Michael Lohse, sagte, das wäre eine katastrophale Entscheidung für das Image der Ökoprodukte.
Nach Ansicht von Staatssekretär Müller ist die EU-Kommission alarmiert gewesen, weil es in dieser Woche zunächst Hinweise auf eine zweite Quelle für die Verunreinigung von Futtermitteln gegeben habe. Das werde aber immer unwahrscheinlicher. Denn nach neuesten Erkenntnissen sei aus der [NSP-] Lagerhalle in Malchin schon Monate früher als bisher bekannt Futtergetreide an Öko- Betriebe ausgeliefert worden. So seien schon am 31. Juli [2001] fast 20 Tonnen Futtergerste über einen Zwischenhändler an die Futtermittelfirma GS Agri geliefert worden. Das könnte darauf hindeuten, dass alles aus Malchin kommt. [Nur Online: Auch die Nitrofen- Funde in Würstchen des Herstellers Meica, die im September hergestellt wurden, seien möglicherweise dadurch zu erklären].
An diesem Sonntag will Müller mit seinen Länderkollegen [Ed: in einer Krisensitzung in Berlin] klären, ob außer der Lagerhalle in Mecklenburg- Vorpommern noch weitere Verunreinigungsquellen in Frage kommen. Dann müssen die Bundesländer die Betriebe sofort sperren, sagte Müller. [Kommentar] [mehr]
N I T R O F E N I N B I O - L E B E N S M I T T E L NAlles doppelt so schlimm
Aus: Der Tagesspiegel am Sonntag, Berlin, 9. Juni 2002, Seite 6 (Meinung).Die scharfen Proteste der Öko- Lobby waren vorhersehbar. Auf die Ankündigungen aus der EU-Kommission, Europa werde möglicherweise in der kommenden Woche seine Grenzen für deutsche Bioprodukte schließen, reagieren Naturland, Bioland und Co. mit großer Empörung. Verständlich, schließlich geht es um die Existenz einer Branche. Deutsche Biobauern würden nicht nur ihre Absatzmärkte verlieren, auch ihr Vertrauen wäre in ganz Europa verspielt.
Belgien prescht voran und verlangt schon ab Montag für deutsche Bioprodukte ein Zertifikat Garantiert Nitrofen-frei. Faktisch ein Importstopp, denn welcher deutsche Anbieter kann das im Moment garantieren? Die Verbände unterstellen Belgien sofort Rachegelüste, weil das Land von den Deutschen wegen seiner vielen Lebensmittelskandale [Ed: erinnert sei nur an den Dioxin-Skandal vom Mai 1999] immer wieder scharf angegangen wurde. Ablenkungsmanöver.
Statt Verschwörungstheorien zu verbreiten, sollten sich die Öko- Verbände lieber darum kümmern, das Vertrauen der Verbraucher wieder zu gewinnen. Und das gelingt bestimmt nicht mit der Devise alles halb so schlimm. Mit dem Hinweis, man müsse schon sehr viele Eier und Geflügel essen, um Krebs zu bekommen, lässt sich garantiert kein Konsument überzeugen [Ed: schließlich will er nicht doch noch zum Endlager für kriminelle Pestizid- Entsorger verkommen]. [mehr]
[12.06.1999: Die Futtermittel-Mafia]
R E A K T I O NDer Öko-Landbau ist der richtige Weg
Betrifft Artikel: Gift auch in Biofleisch und Milch? vom 30. Mai 2002.
Aus: Der Tagesspiegel am Sonntag, Berlin, 9. Juni 2002, Seite 7 (Leser-Meinung) von Dipl.-Ing. agr. EVA CRÜGER, Vorstand der Fördergemeinschaft für den ökologischen Landbau (FöL).Mit Verwunderung beobachte ich die hektische Aktivität und Panikmache gegen den Öko- Landbau in den Medien. Aufklärung der Öffentlichkeit nennt sich das. Hat eigentlich einmal jemand der Öffentlichkeit erklärt, was Öko- Landbau ist? Darin sehe ich das viel größere Problem, dass nämlich nur ein kleiner Teil der Verbraucher wahrscheinlich der Teil, der sowieso schon seit Jahren Bio- Produkte kauft sich über die Definition des Öko- Landbaus gegenüber der konventionellen oder sprechen wir es ruhig aus: der normalen Landwirtschaft klar ist.
Natürlich heißt Öko- Landbau auch, aber nicht nur: Weglassen von Giften, seien es Pflanzenschutzmittel im Ackerbau, Medikamente in der Tierhaltung oder Radioaktivität bei der Konservierung. Öko- Landbau heißt vor allem, eine andere Technologie zu wählen. Im Falle des Pflanzenschutzes bedeutet das: Grundprinzip des Pflanzenbaus im ökologischen Anbau ist die langfristig planende Vorbeugung und Stärkung der boden- und pflanzeneigenen Abwehrkräfte im Rahmen des gesamten Anbausystems. Diesem Ziel dienen sämtliche Anbau- und Pflegemaßnahmen wie standortangepasste Arten- und Sortenwahl, intelligente Fruchtfolgen, Maßnahmen zur Stärkung des Bodenlebens und Pflege von Saumbiotopen. (Müller- Reißmann, Schaffner, Soel, 1990).
Wenn man die gesundheitlichen und geschmacklichen Vorteile des Öko- Landbaus außer Acht lässt und das wird meines Erachtens getan, wenn man den Öko- Landbau verteufelt und nur die vermeintlich ökonomischen Vorteile des normalen Landbaus hervorhebt, schadet man seinen Mitmenschen und bietet keineswegs eine Firewall gegen Kriminalität im Öko- Landbau.
Der Weg des Öko- Landbaus ist richtig. Nun wissen wir, dass alles, was boomt und das tut der Öko- Landbau seit BSE auch Kriminelle anzieht. Es ist an der Zeit zu sehen, was wirklich ist: Das Verhalten [Ed: das monatelange Schweigen] von Naturland war sicher nicht richtig, doch die Aufklärung dieses Skandals bietet nicht nur Frau Künast und den Bio- Verbänden die Chance für ein verbessertes Qualitätsmanagement in der Lebensmittelkontrolle und zwar in allen Bereichen, nicht nur bei der Bio- Babynahrung. [mehr]
L A N D W I R T S C H A F TBelgien stoppt deutsche Agrarprodukte
Aus: Stern, Hamburg, 9. Juni 2002, ??.?? Uhr (nur elektronisch publiziert). [Original]HAMBURG. Nach den EU-Regeln müsste Belgien sich eine derartige Maßnahme genehmigen lassen, allerdings hat die Kommission kaum Möglichkeiten, ein Land an einem solchen Schritt zu hindern. Die belgische Gesundheitsministerin Magda Aelvoet sprach von einem Durcheinander: Mal erzählen uns die Deutschen, sie kennen die Quelle der Verseuchung, dann wieder nicht. Mal sagen sie uns, es seien nur Bioprodukte betroffen, dann wieder nicht. Wir mussten jetzt im Interesse der Gesundheit unserer Bürger handeln. Der Staatssekretär im Bundesverbraucherschutzministerium, Alexander Müller, sagte dazu: Ich halte diese weit reichende Maßnahme für überzogen.
Nur noch Nitrofen-getestete Ware
Nach belgischen Presseberichten vom Samstag [8.6.2002] hatte ein flämischer Betrieb zwischen Dezember 2001 und April 2002 insgesamt 28 Tonnen Putenfleisch von einer deutschen Firma importiert, die jetzt in den Nitrofen- Skandal verwickelt ist. Der größte Teil dieser Lieferung ist längst verbraucht. Von einer verdächtigen Lieferung wurden 3 Proben genommen, die jedoch negativ ausfiel. Nach Ansicht der belgischen Lebensmittelaufsicht besteht kein Grund zur Beunruhigung. Von Montag an sollen jedoch nur Nitrofen- getestete Produkte aus Deutschland akzeptiert werden.
EU-Generaldirektion berät Montag
Die für den Verbraucherschutz zuständige Generaldirektion der EU- Kommission wird sich nach Angaben der Sprecherin morgen mit der Lage befassen. Eine Sondersitzung der Kommission wird es jedoch nicht geben, betonte sie. Nach Auffassung der Behörde werde aber die Entwicklung in Deutschland immer verworrener, weshalb es sinnvoll sein könnte, eine Pause zu machen und die Situation aufzuklären, bevor möglicherweise weiter infizierte Produkte in Umlauf kommen. Für die Verhängung eines Verkaufsstopps bedarf es einer Entscheidung der gesamten EU-Kommission, die jedoch im schriftlichen Schnellverfahren rasch erzielt werden könnte.
Auch Bayern entdeckt Nitrofen-belastete Bio-Gerste
Ein Landhandelsunternehmen im Landkreis Weilheim-Schongau hat nun auch in Bio-Gerste aus Malchin Nitrofen entdeckt. Das bayerische Landwirtschaftsministerium verhängte ein vorläufiges Vermarktungsverbot für alle Kunden des Unternehmens, berichtete das Ministerium heute. Die Marktgesellschaft hatte in Proben bei nicht verkauften Restbeständen aus dem mecklenburgischen Malchin einen Nitrofen- Gehalt von 0,235 Milligramm pro Kilogramm [Grenzwert 0,01 mg/kg] festgestellt und das Ministerium informiert. [mehr]
N I T R O F E N - S K A N D A LAuf Lücke gepokert
Im Nitrofen-Skandal hat Verbraucherschutzministerin Künast vorschnell Entwarnung gegeben; und nun droht die EU mit Sanktionen, die das Ende für die Ökowende bedeuten können. In jedem Fall beweist die Affäre, dass die Lebensmittelkontrolle in Deutschland nicht funktioniert [Ed: sowie die Lebensmittelindustrie meist miserabele Wareneingangskontrollen der Rohstoffe vornimmt].
Aus: Der Spiegel 24/2002, 10. Juni 2002, Seite 3036 (Deutschland) von ANNETTE BRUHNS, JÜRGEN DAHLKAMP, MICHAEL FRÖHLINGSDORF, GUNTHER LATSCH, UDO LUDWIG, CORDULA MEYER und GERD ROSENKRANZ. [Original]Die Halle ist alt und dicht und billig. Sie war also genau richtig, und Zirkusdirektor Heinz William, Fachmann für Menschen, Tiere, Sensationen, hatte es mal wieder geschafft: Für Menschen und Tiere hatte er rechtzeitig vor dem ersten Schnee ein Winterlager gefunden; mit Sensationen war frühestens im Frühling wieder zu rechnen.
Jede Schweinerei zuzutrauen
Aus: Tagesspiegel a.S. 9.6.2002, Seite S1.Wolfram Siebeck (73) Feinschmecker und das kulinarische Gewissen der Nation, sagte im Tagesspiegel- Interview auf die Frage, ob er eigentlich mit einer Seuche wie BSE oder jetzt mit dem Nitrofen- Skandal gerechnet habe: Sich Katastrophen vorzustellen, dazu muss man Wissenschaftler sein. Aber ich sage seit Jahren, dass ich unseren Bauern [Ed: hoffentlich nicht allen] und den Landwirtschafts- Funktionären jede Schweinerei zutraue.
Die Brüsseler Agrarsubventionen fördern Natur- Raubbau und Massentierhaltung. Also wird es immer wieder neue Epidemien geben. Und wenn bei uns die Frau Künsat nur den Mund aufmacht und von alternativer Landwirtschaft redet, hohnlachen die Bauernverbandsfunktionäre.
Die hat der Zirkus jetzt tatsächlich, nur dass die Sensation ein Skandal ist: Vier Monate lang, von November bis März, hat die ahnungslose Truppe in Deutschlands derzeit bekanntester Halle überwintert. In Malchin in jenem Getreidelager, von dem aus angeblich die ganze Republik mit dem Krebsgift Nitrofen verseucht worden ist, inklusive der Mensa der Hamburger Universität und der Kantine des nordrhein-westfälischen Umweltministeriums.
Und wenn überhaupt noch ein Beweis gefehlt hat, dass dieser Lebensmittelkrimi noch längst nicht aufgeklärt ist, dann ist es die Tatsache, dass in einer Halle für Pflanzenschutzgift, die kurz zuvor noch mit Ökoweizen gefüllt war, ein Wanderzirkus Winterquartier beziehen konnte, ohne dass sich daran bis Mitte vergangener Woche irgendjemand störte.
So fügte sich der Nitrofen-Skandal Ende vergangener Woche endgültig in das Muster großer Lebensmittelaffären mit einer Ministerin etwa, die viel zu früh Entwarnung gibt und nun mühsam zurückrudern muss: Erst hatte sie verkündet, mit der Malchiner Halle sei die Giftquelle gefunden, die Gefahr so gut wie gebannt, konventionelle Nahrung wohl nicht betroffen. Nun mehren sich die Hinweise, dass es noch andere Quellen gab, aus denen womöglich nach wie vor Krebsgift in Lebensmittel gelangt, auch in herkömmlich erzeugte Ware.
Und gleichzeitig werden unglaubliche Schlampereien rund um die Malchiner Halle aufgedeckt, die ein Schlaglicht auf einen noch weit größeren Skandal werfen: Dass nämlich nichts von so großer Bedeutung so miserabel überwacht wird wie die Lebens- und Futtermittelindustrie in Deutschland. In diesem Fall mit fatalen Folgen: Noch am Freitag vergangener Woche beschloss Belgien einen Einfuhrstopp für zahlreiche deutsche Nahrungsmittel; in der Bundesrepublik droht schon der Zusammenbruch des Ökomarktes, weil die EU jetzt hart durchgreifen will.
Wen wundert's? Die ganze Branche habe sich seit Jahrzehnten hinter einer "Mauer" verschanzt, schimpfte Verbraucherschutzministerin Renate Künast vorigen Donnerstag in ihrer Regierungserklärung. Und vor dieser Mauer stehen zig Behörden, die wenig kontrollieren, sich die Verantwortung so lange gegenseitig zuschieben, bis sich keiner mehr verantwortlich fühlt, und falls sie trotzdem mal was finden vorzugsweise schweigen.
Verwunderlich ist auch, warum NSP weiter Brotgetreide und Futter verkaufen konnte, obwohl das Unternehmen längst als Glied in der mutmaßlichen Nitrofen-Kette ausgemacht war, die sich bis zu dem Babynahrungshersteller Hipp im bayerischen Pfaffenhofen zog. Noch am 21. Mai erhielt ein Kunde aus Fürstenwerder von NSP "Bio-Dinkel für Speisezwecke" und ein Abnehmer aus Wrist elf Tonnen Bio-Brotweizen. Und als jedermann schon vom Nitrofen-Skandal wusste, öffnete NSP noch mal sein Lager: Ein Käufer in Sommersdorf bekam 2300 Kilogramm Weizen.
Die Gift-Lagerhalle in Malchin
Basis: Tagesspiegel 11.6.2002, Seite 5.
Fortgeschrieben ag. von Internet-Recherchen.1990: Die Treuhand privatisiert die Lagerhalle in Malchin, in der zu DDR- Zeiten Pestizide gelagert wurden, darunter auch das giftige Herbizid Nitrofen (Trizillin mit dem Wirkstoff Nitrofen). 1994: Der neue Besitzer der Lagerhalle, die Landhandelsfirma Diver, entsorgt die Pestizide. Das kostete 300.000 DM (andere Quellen sagen 500.000 DM), wie aus der noch vorhandenen Rechnung hervorgeht. Über den Verbleib der Gifte ist nichts bekannt.
März 1999: Diver ist pleite. Der Konkurs- Verwalter Bernd Walte aus Neustrelitz sucht neue Mieter.
1.7.1999: Der Getreide-Landhandel HaGe Nordland mietet die Halle in Malchin und lagert dort in 3 von 4 Sektionen Getreide. Ein Bootsverleih nutzt die vierte Sektion. Die 4 Sektionen sind heute unterschiedlich stark mit Nitrofen verseucht.
Ende 2000: Ein Zirkus überwintert in einem Teil der Halle.
2.5.2001: Grunstücksverwalter Jürgen Gütschow macht eine Vorkontrolle der Halle, die inzwischen von der HaGe Nordland geräumt wurde. Sie sei sauber gewesen, sagt er heute.
13.7.2001: Der Getreide-Landhandel HaGe Nordland übergibt die Schlüssel an die Grundstücksverwaltung.
27.7.2001: Die Norddeutsche Saat- und Pflanzgut AG (NSP) aus Neubrandenburg erhält die Schlüssel für die Lagerhalle in Malchin. Sie mietet die Halle als Zwischenlager bis Ende Oktober an.
1.11.2001: Für mehrere Monate überwintert wieder der Zirkus in der Halle.
20.12.2001: NSP liefert 72 t Normal-Weizen aus der Halle in Malchin an die benachbarte Futtermühle FUGEMA, was schwerwiegende Folgen hat.
4.4.2002: Die zuständige Öko-Kontrollstelle "Grünstempel" (DE 021) überprüft durch Begehung die Gift-Halle der NSP in Malchin. Man habe dort nichts Auffälliges gefunden, sagt Grünstempel! (Quelle: ARD Bericht aus Berlin vom 14.6.2002)
29.5.2002: Die Biologische Bundesanstalt untersucht die Halle und stellt dabei eine markante Geruchsbelästigung und in einem Teil der Halle sehr deutliche Chemikalienspuren fest. Es werden Proben des porösen Hallenbodens genommen.
1.6.2002: Die Öffentlichkeit erfährt erstmals von der Gift-Halle der NSP in Malchin. [mehr]
10.6.2002: Im porösen Hallen- Boden wird von der Biologische Bundesanstalt eine Nitrofen- Konzentration von bis zu 77,9 g/kg gemessen (Lebensmittel- Grenzwert: 0,01 mg/kg). Außerdem weisen Weizenproben, die 48 Stunden auf dem Hallenboden gelagert wurden, ein Nitrofen- Konzentration von 90 mg/kg auf (vorher 0 mg/kg).
20.6.2002: Der Schweriner Landwirtschaftsminister Till Backhaus (SPD) fordert, die Gift- Halle abzureißen und den Schutt zu entsorgen.
Kalt überrascht war am vergangenen Freitag ein Mischfutterfabrikant aus Malchin, als er vom SPIEGEL erfuhr, dass auch er 72 Tonnen Weizen aus der Nitrofen- Halle bekommen hatte. Bis zu diesem Tag hatte sich seine Firma auf ihrer Internet- Seite noch damit gebrüstet, "dass unser Haus davon nicht betroffen ist". Der Futtermühle war das Getreide als konventionelle Ware verkauft worden womit nun auch feststeht, dass nicht nur Ökonahrung mit Nitrofen verseucht sein dürfte.
Schlampereien über Schlampereien dennoch hat die Sonderkommission des Landeskriminalamts (LKA) immer stärkere Zweifel, dass Schludrigkeit und Kompetenzwirrwarr allein hinter den hohen Nitrofen-Werten im Ökoweizen stecken.
Vor allem einige Zeitabläufe ließen sich Ende vergangener Woche nur schwer erklären: Die Malchiner Halle hatte NSP anders als Verbraucherministerin Renate Künast zuvor noch behauptete nur vom 1. August bis 31. Oktober vergangenen Jahres offiziell gemietet. Schon am 7. September waren die ersten Würstchen der niedersächsischen Marke Krusenhof Nitrofen-belastet (SPIEGEL 23/2002). Reichten demnach nur 5 Wochen vom Transport des Weizens bis hin zur Verwurstung der damit gefütterten Pute?
Auch für den Leitenden Oberstaatsanwalt in Neubrandenburg, Rainer Moser, hat die Malchin- Theorie noch erhebliche Lücken. Er habe "Zweifel", ob die Verseuchung der Halle überhaupt hoch genug war, um die extreme Giftkonzentration im Weizen erklären zu können. Genau dieser Frage will Ingemar Weitemeier, Chef des Landeskriminalamts, nun nachgehen: "Wir werden prüfen, wie welche Mengen Nitrofen wirken" daraus will Weitemeier Rückschlüsse ziehen, ob auch Sabotage in Frage kommt. Eines ist für den LKA-Chef klar: "Malchin ist nur eine von mehreren Spuren." Zweifel an der Theorie von der Hauptquelle Malchin meldete noch am Freitag vergangener Woche in einem Vermerk auch ein Mitglied der von Künast eingerichteten Taskforce zur Aufklärung des Falles an.
Die Indizien sind in der Tat verwirrend. Einerseits: Noch am 2. Oktober hatte NSP aus der Halle Ökogetreide für Brot an eine Mühle in Nordrhein- Westfalen geliefert Testergebnis der Rückstellprobe: Nitrofenfrei. Andererseits: Bei vier Getreidelieferungen der NSP an die GS agri war das Gift überraschend gleichmäßig verteilt dabei hätte sich der Staub vom Hallenboden eigentlich nur auf einem Teil des Getreides absetzen dürfen.
So ist zurzeit nur eines sicher: Dass die Behörden bei der Überprüfung der Malchiner Halle in der Vergangenheit so versagt haben, wie dies Behörden bei der Kontrolle von Futter- und Lebensmitteln immer wieder tun. Wie ein Schüler, der bei der Klassenarbeit darauf hofft, die richtigen zehn Prozent gelernt zu haben, pokern sie auf Lücke, und diese Lücke wird eher größer als kleiner.
Das Hamburger Hygiene-Institut etwa, das im Auftrag der Hansestadt im Jahr 2000 rund 9800 Lebensmittelproben untersucht hat, muss nun mit 100 000 Euro weniger vom klammen Senat auskommen. Und die Isotopenmethode, mit der sich die Herkunft von Weizen feststellen ließe, wird erst jetzt, im Nitrofen-Skandal, eingesetzt monatelang hatten die Agrarminister die Sache vor sich hergeschoben.
So liegen Kontrolleure und Erzeuger tief in ihren Ackerfurchen und hoffen, dass der Blitz nicht gerade bei ihnen einschlägt. Erwischt hat es kürzlich die Bayern und die Sachsen. Ein Prüfteam der EU rüffelte, dass Bayern im Jahr 2000 gerade 1200-mal Obst und Gemüse auf Pestizide untersucht habe, Sachsen 1125-mal. In Bayern, so der entsprechende EU-Bericht, würden Pestizidkonzentrationen gewöhnlich erst ernst genommen, wenn sie mindestens um das Hundertfache über dem Grenzwert lägen.
Zwar werden Lebensmittelprüfer sehr schnell fündig, wenn sie nur suchen: So beanstandeten etwa die Prüfer des Veterinär- und Lebensmittelüberwachungsamts im nordrhein- westfälischen Mettmann im Jahr 2000 fast 16 Prozent ihrer 1923 Proben. Bei Obst und Gemüse fanden sie in fast jedem zweiten Fall Pestizide.
Doch bis die Treffer weitergemeldet werden, können Monate vergehen; in einem Fall, in Bayern, dauerte es 89 Tage, bis ein Giftfund ganz oben angekommen war: im Schnellwarnsystem der EU. Der Verbraucher muss oft noch länger warten, und in vielen Fällen erfährt er nie, was er gegessen hat. So bekamen die Deutschen am 29. April weder zu hören, dass sie schon Tausende mutmaßliche Nitrofen-Würstchen der niedersächsischen Marke Krusenhof verputzt hatten, noch, dass der Hersteller Meica just an diesem Tag damit begann, ganz still die restlichen 23.600 Gläser aus den Regalen zu ziehen.
Die undurchsichtige Informationspolitik im Nitrofen-Skandal hat auch Brüssel in Rage gebracht; besonders stört die EU-Kommission, dass sie viele Fakten erst aus der Zeitung erfuhr. Die Experten im Künast- Ministerium brüteten deshalb am vergangenen Wochenende über einem Katalog mit strengen Fragen der EU-Kommission, um schlimmste Konsequenzen für den deutschen Ökomarkt im letzten Augenblick noch abwenden zu können.
Die Berliner hatten Hinweise, dass die EU am Montag dieser Woche auch über Maßnahmen beraten wird, die Vermarktung von deutschen Ökoprodukten in ganz Europa komplett zu verbieten. Das würde auch für Deutschland selbst gelten, und zwar so lange, bis nachgewiesen wäre, dass alle Waren garantiert Nitrofenfrei seien. Das aber wäre ein Keulschlag für die gesamte Agrarwende von Künast - denn bis solch eine Sperre wieder fällt, können Monate vergehen. Bis dahin wären zahlreiche Ökobetriebe bankrott, die neue Landwirtschaft auf weiter Flur am Ende.
Der Druck der EU ist massiv, doch dass sich an der Politik der Heimlichtuerei ohne Druck wohl nichts ändern würde, zeigte gerade erst wieder das Schicksal des Verbraucher- Informationsgesetzes. So war es Kernanliegen des von Rot-Grün verabschiedeten Paragrafenwerks, die Behörden vor unkalkulierbaren Prozessrisiken zu schützen, wenn sie bei Lebensmittelskandalen Ross und Reiter frühzeitig öffentlich machen. Nun aber schmort das Gesetz im Bundesrat, blockiert von einer Mehrheit unionsregierter Länder.
Deshalb ahnt mittlerweile auch die Ökoszene, dass sich mit Künasts Agrarwende nicht automatisch alles zum Besseren wendet. Die Vorstellung, mit dem Siegeszug des Bio-Landbaus werde automatisch die Lebensmittelsicherheit insgesamt zunehmen, hat sich als naiv entpuppt.
Denn die Nitrofen- Krise betrifft jenen Teil der Bio-Landwirtschaft, der von Trittbrettfahrern der Agrarwende übernommen wurde und nun genauso funktioniert wie die herkömmliche Produktion: überregional, hoch arbeitsteilig, industriell und in der Folge anonym. Ganz so, als gäbe es nichts Neues auf deutschen Äckern außer dem jeweils jüngsten Skandal. [mehr]
[Zum Chaos bei der deutschen Lebensmittel-Kontrolle]
[03.06.2002: Wie Behörden und Öko-Verbände den Nitrofen-Skandal vertuschten]
N I T R O F E N - S K A N D A LMalchin ist der Kopf der Pyramide
Im Nitrofen-Skandal sind Ermittler inzwischen davon überzeugt, dass das verseuchte Öko-Getreide aus einer einzigen Quelle stammt. Der mit dem Pflanzenschutzmittel belastete Boden einer ehemaligen Pestizid-Lagerhalle in Mecklenburg-Vorpommern soll der Ursprung des Skandals sein.
Aus: Spiegel-Online, Hamburg, 10. Juni 2002, ??.?? Uhr (nur elektronisch publiziert). [Original]BERLIN/BRÜSSEL/SCHWERIN. Damit sahen sich Bundesregierung und Behörden heute in ihrer Annahme bestätigt, dass die Halle in Malchin (Mecklenburg-Vorpommern) die einzige Quelle der Verseuchung mit dem giftigen Pflanzenschutzmittel ist. Die EU fällt frühestens morgen eine Entscheidung über ein mögliches europaweites Vermarktungsverbot für deutsche Bioprodukte.
Über Jahre hinweg sei Pflanzengift aus lecken Fässern ausgelaufen und in den Boden eingesickert. Bei neuen Analysen seien im porösen Hallenboden Konzentrationen von bis zu 77,9 Gramm Nitrofen je Kilogramm ermittelt worden, sagte der Chef des Landeskriminalamtes (LKA), Ingmar Weitemeier, in Schwerin. Der amtliche Grenzwert für Lebensmittel liegt mit 0,01 Milligramm millionenfach niedriger [Ed: 7.790.000-fache Grenzwert- Überschreitung].
Beim Verladen des Getreides mit Radladern wurde der Boden nach Erkenntnissen der Ermittler offenbar aufgeraut. Kontaminierter Staub gelangte so in das Getreide, das dann an den niedersächsischen Futtermittelhersteller GS agri geliefert wurde. Laut Weitemeier lagerten in der Malchiner Halle noch Mitte der 90er Jahre 88 Tonnen Pflanzenschutzmittel, darunter 17 Tonnen des DDR- Pflanzengiftes Trizillin mit dem Wirkstoff Nitrofen. Die Norddeutsche Saat- und Pflanzgut AG (NSP) hatte die Malchiner Halle seit August 2001 als Getreidelager angemietet und GS agri beliefert.
"Malchin ist der Kopf einer Pyramide, von dem aus Nitrofen in Futter- und Lebensmittel gelangte", sagte der Agrarminister von Mecklenburg- Vorpommern, Till Backhaus (SPD). Weitere Quellen seien nicht bekannt. Die Staatsanwaltschaft ermittele dennoch weiter "in alle Richtungen". LKA-Chef Weitemeier wies Spekulationen um andere Verseuchungswege zurück.
Hallen-Vermieter: Verseuchung war bekannt
Nach Angaben der Staatsanwaltschaft soll nun auch geklärt werden, ob bei der Lagerung des Getreides in der verseuchten Halle fahrlässig oder vorsätzlich gehandelt wurde. Der Vermieter der Halle, Bernd Walte, sagte der Zeitschrift "Super Illu", alle Mieter der Halle hätten gewusst, dass dort zu DDR-Zeiten Pflanzengifte lagerten. Die frühere Nutzung könne man auch im Grundbuch, im Treuhandvertrag und in den Mietverträgen nachlesen. Daraus gehe hervor, dass die letzten Pflanzenschutzgifte in Malchin erst 1995 entsorgt worden seien.Morgen will der Ständige Lebensmittelausschuss in Brüssel über die Folgen des Skandals beraten. Das Bundesverbraucherministerium zeigte sich zuversichtlich, dass auf Deutschland keine EU-Sanktionen zukommen. Nach ersten Anrufen habe das Ministerium aus Brüssel "Signale bekommen, dass die Sachlage jetzt eine ganz andere ist", sagte eine Sprecherin. Sie sei zuversichtlich, dass die Kommission davon überzeugt werden könne, dass das Nitrofen- Problem auf eine Quelle eingegrenzt worden sei. Der zuständige Abteilungsleiter im Ministerium wollte den Angaben zufolge am Montagnachmittag in Brüssel mit ranghohen EU-Beamten über die Erkenntnisse im Nitrofen- Skandal reden.
Bisher keine Entscheidung der EU
Die Sprecherin von EU-Verbraucherschutzkommissar David Byrne, sagte aber, die Haltung der Kommission sei offen. "Wenn Gefahr für die Gesundheit der Menschen besteht, könnte man einen Vermarktungsstopp für bestimmte Produkte in ganz Europa aussprechen. Allerdings könne es genauso gut sein, dass keine Maßnahmen ergriffen werden.Unterdessen traten heute die umstrittenen Maßnahmen der der belgischen Regierung in Kraft, bestimmte Erzeugnisse aus Deutschland nur mit einem Zertifikat "nitrofen-frei" ins Land zu lassen. Der EU- Lebensmittelausschuss will bei seinem Treffen am Dienstag [11.6.2002] auch über die einseitigen belgischen Sanktionen beraten.
Im niedersächsischen Kreis Diepholz wurden am Montag weitere 9000 mit Nitrofen belastete Masthähnchen und Legehennen getötet und anschließend verbrannt. Bereits am Freitag [7.6.2002] waren im Auftrag des Geflügelhalters 11.000 Tiere getötet worden. Insgesamt sind allein im Kreis nach bisherigen Erkenntnissen der Behörden rund 50.000 Tiere aus 51 Ställen mit Nitrofen belastet. [mehr]
[In der Malchiner Gifthalle wussten angeblich alle Bescheid]
Heiße Luft gegen Künast
Seitdem der Nitrofen-Skandal öffentlich geworden ist, will die Union der Verbraucherschutzministerin Renate Künast (Grüne) einen Strick daraus drehen. Heute gipfelte das in einer hitzigen Debatte im Bundestag bei der die Union kaum Argumente hatte.
Aus: Spiegel-Online, Hamburg, 12. Juni 2002, ??.?? Uhr (nur elektronisch publiziert). [Original]BERLIN. In der Aktuellen Stunde schritt einer nach dem anderen aus der Unionsfraktion zum Pult und legte los in der Hoffnung, ein paar Wahlkampfpunkte zu sammeln. "Es ist unerträglich, wie Künast von eigenen Fehlern ablenkt und andere an den Pranger stellt", echauffierte sich der CSU-Politiker Albert Deß. Und fragte sinnig: "Was nun, Frau Künast?"
Sein Kollege Max Straubinger (CSU) legte nach: "Die Regierung hat bei der Bewerkstelligung der Krise versagt!" Wer nur einseitig auf die Lagerhalle in Malchin als Quelle der Verseuchung setze, trage Scheuklappen bei der Aufklärung.
Dabei hatte der Parlamentarische Staatssekretär im Verbraucherministerium, Matthias Berninger, in einer Fragestunde kurz zuvor genau dies angesprochen. Zwar stamme bis jetzt jedes vergiftete Getreidekorn aus der Lagerhalle in Malchin, in der zu DDR-Zeiten Pflanzenschutzmittel aufgewahrt wurden. "Trotzdem verfolgen wir auch jede weitere Spur", so Berninger.
Kaum stichhaltige Argumente hatte auch CDU-Agrarexperte Heinrich-Wilhelm Ronsöhr. "Wenn die Feuerwehr bei einem Brand so lange bräuchte, wie das Verbraucherschutzministerium bei der Aufklärung, wäre Deutschland abgebrannt", polterte er. Künast habe in eineinhalb Jahren nach der Rinderseuche BSE keine Änderung gebracht. "Ich forderte Frau Künast auf, Schritte für den Verbraucherschutz einzuleiten."
Damit allerdings lieferte er der Regierung ihr Argument. Denn es sind die Unions- geführten Länder, die das Verbraucherschutz- und Verbraucherinformationsgesetz im Bundesrat blockieren. "Da zeigt sich genau die Heuchelei der Union", sagte die Günen-Agrarexpertin Ulrike Höfken. Die SPD-Abgeordnete Christel Deichmann fügte hinzu: "Die Union will nur Honig aus dem Skandal saugen."
Zudem könnte Künast gar nicht so durchgreifen, wie Ronsöhr und teilweise auch sie selbst es gern hätten viele Zuständigkeitsbereiche liegen bei den Ländern. Die Angriffe der Union schienen Ministerin Künast indes kalt zu lassen sie war nicht zur Aktuellen Stunde erschienen. [mehr]
N I T R O F E N - S K A N D A LNitrofen auch in konventionellem Futter
Neue Giftfunde / 500 Landwirtschafts-Betriebe in Mecklenburg-Vorpommern vorsorglich gesperrt
Aus: Der Tagesspiegel, Berlin, 13. Juni 2002, Seite 1 (Politik). Dokumentiert wird hier die Print- Fassung des Artikels. [Original]BERLIN. Der Nitrofen-Skandal zieht immer weitere Kreise. Nach Angaben von Alexander Müller, Staatssekretär im Bundesverbraucherschutzministerium, wurde das krebserregende Unkrautvernichtungsmittel jetzt zum ersten Mal in konventionellen Futtermitteln gefunden. Es wurde in einer Weizenprobe des neubrandenburgischen Futtermittelherstellers Fugema nachgewiesen. Jeder vierte landwirtschaftliche Betrieb in Mecklenburg- Vorpommern, insgesamt 500, wurde inzwischen vorsorglich gesperrt, teilte der Landwirtschaftsminister des Landes, Till Backhaus, am Mittwochabend [12.6.2002] mit. Backhaus sprach von einem immensen wirtschaftlichen Schaden.
Ausgangspunkt der neuen Nitrofen-Funde sind 72 Tonnen Weizen, die in derselben Lagerhalle in Malchin gelagert wurden, aus der auch der verseuchte Öko- Weizen kam. Der Weizen stammte von einem Hof, der gerade von konventioneller auf Öko- Landwirtschaft umstellte und durfte daher nicht zu Öko- Futter verarbeitet werden. Von Malchin aus wurde das Getreide nach Angaben von Müller am 20. Dezember 2001 zu der Futtermittelmühle Fugema in Neubrandenburg gebracht. Hier sei es in Silos mit 6.000 Tonnen Weizen aufgefüllt und zu insgesamt 50.000 Tonnen Gemischtfutter weiterverarbeitet worden Futter, das nach Angaben von Landwirtschaftsminister Backhaus anschließend an Höfe in Mecklenburg- Vorpommern und Brandenburg ausgeliefert und verfüttert worden ist.
In einer von 10 so genannten Rückstellproben aus diesem Getreide sei eine Nitrofen- Belastung von 0,346 Milligramm pro Kilogramm festgestellt worden. Der Grenzwert, der für Menschen als problematisch gilt, liegt bei 0,01 Milligramm pro Kilogramm. Backhaus sagte, sein Ministerium sei erst Ende letzter Woche vom Hersteller über die Verseuchung informiert worden. Das Land habe inzwischen Strafanzeige gestellt.
Trotz der erneuten Funde geht Verbraucher- Staatssekretär Müller immer noch davon aus, dass es nur eine Quelle für das verseuchte Futter gibt: die Lagerhalle in Malchin. Die Biologische Bundesanstalt habe inzwischen die Halle besucht und dabei eine markante Geruchsbelästigung und deutliche Chemikalienspuren in einem Teil des Gebäudes festgestellt, sagte Müller.
Alle Betriebe, an die das Futtermittel geliefert worden ist, sollen jetzt bis zum Wochenende untersucht werden. Sie werden erst wieder entsperrt, wenn wir negative Proben haben, sagte Backhaus. Wie viele Betriebe insgesamt betroffen sind, konnte er nicht sagen. [mehr]
U M W E L T S K A N D A LBauern beschuldigen die Futtermittel-Mafia
Der Nitrofen-Skandal hat auf weitere Bundesländer übergriffen. Nach Mecklenburg-Vorpommern wurden auch in Brandenburg und Niedersachsen Bauernhöfe gesperrt. Von Seiten der Landwirte gibt es jetzt heftige Vorwürfe gegen die Futtermittel-Industrie.
Aus: Spiegel-Online, Hamburg, 13. Juni 2002, ??.?? Uhr (nur elektronisch publiziert). [Original]BERLIN/SCHWERIN. Die Suche nach verseuchtem Futter und belasteten Lebensmitteln läuft jetzt bundesweit. Heute waren nach neuen Funden Nitrofen- verseuchter Futtermittel insgesamt fast 450 Bauernhöfe gesperrt. Betroffen sind Mecklenburg- Vorpommern, Brandenburg und Niedersachsen. Der mecklenburgische Agrarminister Till Backhaus (SPD), dessen Bundesland am schwersten betroffen ist, sprach von einer dramatischen Situation.
Entgegen ersten Ankündigungen wurden in Mecklenburg-Vorpommern allerdings statt 500 lediglich 399 Agrar- Betriebe gesperrt. Die ersten von ihnen könnten zum Wochenende wieder geöffnet werden. Die Tests seien aber frühestens Ende nächster Woche abgeschlossen. Unter den gesperrten Betrieben ist der mit 65.000 Tieren größte Schweinemastbetrieb Mecklenburg-Vorpommerns in Losten nördlich von Schwerin.
In Brandenburg wurden 38 Agrarbetriebe wegen Nitrofen- Verdachts vorsorglich geschlossen. Darunter sind Öko- Höfe und konventionelle Betriebe, hieß es im Agrarministerium. In Niedersachsen sperrten die Behörden 6 Betriebe. In Sachsen- Anhalt sollen 3 Betriebe mit verdächtigem Futtermittel der Firma Fugema beliefert worden sein. Das werde überprüft.
Bei einem südhessischen Großhändler sind in dieser Woche rund 200 Kilogramm Nitrofen belastete Ei-Produkte für Bäckereien sichergestellt und vernichtet worden, teilte Hessens Sozialministerium mit. Rund 800 Kilogramm aus der Charge seien an die Verbraucher gegangen und wahrscheinlich verzehrt. Es habe keinerlei Gesundheitsgefahr bestanden, sagte Stefan Hörnig von der Lebensmittelkontrolle beim Ministerium. Die Eier stammten von einem niedersächsischen Bio-Eierhersteller.
Aus dem ehemaligen DDR-Pestizidlager in Malchin waren im vergangenen Dezember 72 Tonnen Weizen an das Futtermittelwerk Fugema geliefert und mit 6.000 Tonnen Getreide vermischt worden. Daraus sind nach Angaben der Behörden 50.000 Tonnen konventionelles Futtermittel für Schweine, Hennen und Rinder hergestellt und ausgeliefert worden. Bislang war Nitrofen nur in Bio-Futtermitteln nachgewiesen worden.
Händler wollen Sicherheit
Einige deutsche Handelsketten reagierten heute mit Kontrollen ihrer Produkte. Die Edeka AG mit mehr als 10.000 Einzelhandelsgeschäften gab bekannt, dass keiner der gesperrten Betriebe Lieferant des Unternehmens sei. Die Supermarktkette Netto mit 180 Geschäften in Mecklenburg- Vorpommern, Berlin und Brandenburg will von ihren Fleischlieferanten erneut Unbedenklichkeitserklärungen einholen.Viele Supermärkte und Kaufhäuser sehen jedoch aktuell keinen Handlungsbedarf. Bereits zu Beginn des Skandals Ende Mai seien vorsorglich auch konventionell erzeugte Lebensmittel unter die Lupe genommen worden, teilten Sprecher mehrerer Handelsketten mit. Darunter sind Deutschlands größter Handelskonzern Metro (Real, Extra, Kaufhof), Deutschlands größte Warenhauskette Karstadt und der Bielefelder Handelskonzern AVA (175 Marktkauf- Filialen).
Filz-Vorwürfe gegen "Futtermittel-Mafia"
Die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) hat die Futtermittel- Industrie scharf angegriffen [Ed: nicht aber der Deutsche Bauernverband warum?]. "Wir haben es mit einer verfilzten Futtermittel- Wirtschaft zu tun, die verschweigt, was sie weiß, und durch das Untermischen von kontaminiertem Getreide Hunderte von Betrieben lahm legt", kritisierte der AbL- Bundesvorsitzende, Friedrich Wilhelm Graefe zu Baringdorf, heute im westfälischen Hamm. "Das sind nicht mehr Nachlässigkeiten Einzelner, hier betreibt eine ganze Futtermittel- Mafia ihr Geschäft auf Kosten von Bauern und Verbrauchern." Jetzt müsse auch das Bundeskriminalamt ermitteln.Der Präsident des Deutschen Bauernverbandes, Gerd Sonnleitner, forderte die Futtermittelindustrie auf, einen Beitrag zur Aufklärung des Skandals zu leisten. Pauschalvorwürfen von Verbraucherministerin Renate Künast (Grüne) wollte sich Sonnleitner aber nicht anschließen Dem Künast- Ministerium warf der Bauernpräsident Versagen hinsichtlich des Kontroll- und Meldesystems vor. Die Ministerin müsse daher die politische Verantwortung für den Skandal übernehmen. Der Raiffeisen- Verband wies die Vorwürfe Künasts als haltlos und Ablenkungsmanöver zurück. [mehr
][11.06.2002: Video: Wie Nitrofen die heile Welt der alternativen Landwirtschaft zerstörte]
[12.06.2002: Nitrofen-Skandal: Heiße Luft gegen Künast]
[13.06.2002: Zitat des Tages: Warum man den Verbraucher nicht vergiften sollte]
Giftmüll von Großunternehmen auf bayerischen Feldern
Ein Umweltskandal in Bayern bringt einige Großunternehmen in Erklärungsnot. Neben der Lufthansa haben offenbar auch Ford und Agfa monatelang ätzenden Giftmüll an einen Bauern zur Entsorgung geliefert, den dieser dann einfach auf seinen Feldern verteilt haben soll.
Aus: Spiegel-Online, Hamburg, 13. Juni 2002, ??.?? Uhr (nur elektronisch publiziert). [Original]NEUENDETTELSAU/LEVERKUSEN. Der Landwirt steht im Verdacht, auf diese Weise in den vergangenen beiden Jahren insgesamt rund 4.000 Tonnen Alt- Chemikalien illegal entsorgt zu haben. Dazu gehören nach Angaben der Staatsanwaltschaft Ansbach unter anderem der Krebs erregende Stoff Toluol, Ameisensäure, das Blutgift Anilin sowie Phenole und Pyridin.
Agfa hat nach Angaben Firmen- Sprechers Hartmut Hilden vom September 2001 an bis zum Frühjahr dieses Jahres insgesamt 140 Tonnen wässerige Lösungen aus der Fotochemikalien- Produktion nach Neuendettelsau geliefert. Agfa sei von einem Lieferanten auf den fränkischen Entsorgungsbetrieb aufmerksam gemacht worden, sagte Hilden. Der Landwirt habe alle erforderlichen Genehmigungen vorweisen können und sei auch in der amtlichen Verwerterdatei des bayerischen Landesamtes für Umweltschutz geführt worden.
Auch bei einer Vor-Ort-Besichtigung seien die Agfa-Experten nicht argwöhnisch geworden. "Es ist uns zumindest nichts aufgefallen, dass da was nicht stimmen könnte", berichtete der Sprecher. Hilden betonte, bei der Wahl des Neuendettelsauer Entsorgers sei auch nicht der Preis ausschlaggebend gewesen. "Der Mann hat durchaus marktübliche Preise verlangt", sagte er, ohne Details zu nennen.
Zu den Kunden des fränkischen Betreibers einer Biogasanlage haben auch die Ford-Werke im saarländischen Saarlouis gehört. Nach Angaben eines Ford-Sprechers in Köln lieferte der Autohersteller 5 Monate lang von Dezember 2000 bis April 2001 rund 95,54 Tonnen wässerige Suspensionen, die Farbe und Lacke enthielten. Die Lieferung nach Mittelfranken sei über die deutsche Tochter eines französischen Entsorgungsunternehmens gelaufen. Ein Verschulden seines Unternehmens sieht der Sprecher nicht. "Die Entsorgungsanlage des Landwirts hatte eine Zulassung des bayerischen Landesamtes für Umweltschutz für genau diese Abfallart", betonte er.
Grässlicher Gestank Ursache: Mit Giftmüll
kontaminierte Felder
im bayerischen
Neuendettelsau.Angaben der Firma Agfa bringen unterdessen das Landratsamt Ansbach unter Druck. Wie Firmensprecher Hilden berichtete, habe die Behörde dem Unternehmen vor Abschluss des Entsorgungs- Kontrakts schriftlich bestätigt, dass der Bauer die entsprechenden Genehmigungen besaß. Bislang hatte das Landratsamt immer behauptet, lange Zeit nichts von den Machenschaften des Landwirts gewusst zu haben. Beschwerden von Anwohnern, deren Lebensqualität durch Gestank und Schadstoffe zunehmend beeinträchtigt wurde, sollen jedoch Monate lang ins Leere gelaufen sein.
Auch die Umweltbehörden des Freistaats geraten immer stärker in die Schusslinie. So forderten die Grünen im Landtag heute in einem Dringlichkeitsantrag wegen des Giftmüllskandals personelle Konsequenzen im Umweltministerium und dem Landesamt für Umweltschutz in Augsburg.
13.6.2002 (khd). Und was hat dieser kriminelle Bauer auf seinen Feldern angebaut? Wohin sind gegebenenfalls dort gewachsene Lebensmittel verkauft worden? Werden uns das die bayerischen Behörden sagen?
14.6.2002 (bse-p). Immerhin ist dieser Bauer aus der Nähe von Ansbach inzwischen in Haft. [mehr]
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